Das Zeitalter der Industrie

Die Industrielle Revolution

Kohle und Kapitalismus prägen die Welt

Das Zusammentreffen von Erfindungen, die dem ungeliebten Brennstoff Kohle neue Einsatzmöglichkeiten verschaffte (Dampfmaschine und Verschwelung zu Kokskohle, mit der Eisen hergestellt werden konnte) mit neuen Formen wirtschaftlichen Denkens (“Kapitalismus”) prägten die Industrielle Revolution. Von England aus breitete sie sich nach Westeuropa und in die Vereinigten Staaten von Nordamerika aus; sie sollte das Leben der Menschheit nicht nur in den Industriegesellschaften, sondern fast überall auf der Erde ändern.

Kruppsches Hüttenwerk Rheinhausen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Kruppschen Hüttenwerke Rheinhausen zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit 1880 übertraf die deutsche Industrieproduktion die englische (mehr). Abb. aus wikipedia, Bild Krupp Rheinhausen

Teil 1:
Kohle, Dampfmaschine und Stahl
Der Beginn der industriellen Revolution in England

Die “Industrielle Revolution”, die in kurzer Zeit die Lebensverhältnisse fast der gesamten Menschheit umstürzen sollte, begann eher gemächlich: Vor allem die Nachfrage der neu entstandenen Mittelschicht hatte die mit Baumwolle aus den Kolonien versorgte englische Textilindustrie zum wichtigsten Gewerbe des Landes gemacht. Die Mechanisierung begann mit John Kays 1733 patentierten fliegenden Weberschiffchen; damit und anderen technischen Innovationen wie der Streichmaschine wurden Baumwollstoffe glatter und billiger. 1738 baute Lewis Paul die erste funktionsfähige Spinnmaschine, die er und John Wyatt in ihrer 1741 eröffnete Baumwollspinnerei einsetzten. Das Unternehmen musste zwar vier Jahre später schließen, aber mit der 1764 von James Hargrave erfundenen "Spinning Jenny" setzte sich die Spinnmaschine durch. 1771 baute Richard Arkwright um eine von ihm verbesserte Spinnmaschine – die durch Wasserkraft angetriebene "Waterframe" – herum die erste Fabrik (eine Fabrik ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr mit Hilfe von Maschinen und unterschiedlichen Arbeitsvorgängen – also arbeitsteilig – produziert wird). An Arkwrights Spinnmaschine konnten auch ungelernte Arbeiter Garn spinnen. 1775 kam die noch Walzenkarde hinzu, mit der die rohen Baumwollfasern zum Spinnen vorbereitet wurden – damit konnte der gesamte Prozess vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt weitgehend mit Maschinen und arbeitsteilig erledigt werden. Die (arbeitsteilige) Produktion von Gütern in Fabriken (in der Regel mit einem hohen Grad an Mechanisierung) wird Industrie genannt. Da Nachfrage nach Baumwolltextilien war schon vorher groß gewesen, aufgrund der jetzt möglichen Massenproduktion betrug der Baumwollverbrauch im Jahr 1800 bereits das Zwölffache des Verbrauchs von 1770.

Die Rolle dieser ersten Industrie wäre aber, da sie an Wasserkraft gebunden war und auch diese durch alte Nutzungs- und Wasserrechte nur eingeschränkt nutzen konnte, vermutlich sehr beschränkt geblieben. Was sie prägen sollte, war die Dampfmaschine. Seit im England des 13. Jahrhunderts Brennholz knapp geworden war, hatten die Engländer in größerem Umfang angefangen, Kohle zu verheizen. Die Kohle stammte aus Flözen, die entlang des Flusses Tyne zutage traten. Im Jahr 1378 exportierte der Haupthafen Newcastle bereits 15.000 Tonnen Kohle. Der Verbrauch an Kohle stieg stetig; im Jahr 1700 wurden alleine in der Stadt London 1.700 Tonnen Kohle pro Tag verbrannt. Durch diese Mengen waren die englischen Bergwerke so tief geworden, dass sie mit Wasser vollliefen – Pumpwerke wurden gebraucht. Die ersten wurden von Pferden angetrieben, doch mit tierischer Arbeitskraft oder Windkraft angetriebene Pumpwerke reichten bald nicht mehr. Auch die Geschichte der Kohle wäre vermutlich zu dieser Zeit zu Ende gewesen, hätte nicht 1712 Thomas Newco­men zum Abpumpen des Grubenwassers eine Dampfmaschine entwickelt, die den im Jahrhundert zuvor entdeckten Luftdruck nutzte: Wasserdampf wurde in einem Zylinder durch kaltes Wasser zur Kondensation gebracht, der dadurch entstehende Unterdruck zog einen Kolben nach unten, und dieser zieht über eine Wippe eine Pumpe aufwärts. Mit Newcomens Maschine konnte erstmals Wärme (Kohle wurde verbrannt, um den Dampf zu erzeugen) in mechanische Arbeit umgewandelt werden. 1769 ließ sich der geniale schottische Erfinder James Watt zwei entscheidende Verbesserungen patentieren: Die Kondensation des Wasserdampfes in einem separaten Kondensator, so dass der Zylinder nicht mehr abkühlen und bei jedem Kolbenhub neu aufgeheizt werden musste; und die Isolierung des Zylinders. Damit verbesserte er den Wirkungsgrad um das Sechsfache – auf immer noch bescheidene drei Prozent. Nach Jahren der Entwicklung gründete Watt gemeinsam mit dem Fabrikanten Matthew Boulton die Firma Boulton & Watt zur Her­stellung von Dampfmaschinen, 1777 lief die erste Watt’sche Dampfmaschine in der Erzmine von Chacewater. Boulton & Watt wurde zum Riesenerfolg, denn die Firma stellte Maschinen her, die nicht nur die Kohleförderung billiger machten, sondern mit der auch Erze und andere Rohstoffe leichter und billiger abgebaut werden konnten. Auf Drängen von Boulton arbeitete Watt zudem daran, mit der Dampfmaschine Drehbewegungen zu erzeugen: Damit würde sie zur allseits einsetzbaren Industriemaschine, geeignet zum Antrieb von Mühlen, Spinnmaschinen, Walzwerken und anderen Maschinen. 1782 gelang es Watt, die “doppelt wirkende Dampfmaschine” herzustellen, die dies konnte. (Aus der Zahl der von einer Dampfmaschine eingesparten Pferde zum Abpumpen des Grubenwassers entstand übrigens das lange gebräuchliche Maß für Leistung – die Pferdestärke [PS].)

Watts Dampfmaschine kam in eine Zeit, die auf sie gewartet zu haben schien. In England, wo der Absolutismus sich nie hatte durchsetzen können und die Bauern bereits seit dem Mittelalter frei waren, hatten Kaufleute und Finanziers stärker als anderswo auch in das Gewerbe investiert. Schon seit dem Mittelalter waren Maschinen genutzt worden – etwa um Metall zu formen oder Getreide und Malz; viele von ihnen wurden bereits mit Hilfe von Wasser- oder Windkraft mechanisch angetrieben. Das Land war infolgedessen nicht nur in der Textil-, sondern auch in der Eisenproduktion führend: 1709 wurde hier zum ersten Mal Koks statt Holzkohle für die Eisenherstellung eingesetzt, 1740 Gussstahl hergestellt und 1783/84 wurde Stahl mit dem Puddelverfahren zum Massenprodukt.

Wie wird Wohlstand geschaffen?

Die Investitionen in das Gewerbe waren darauf zurückzuführen, dass nicht nur die Technik, sondern auch das Denken sich geändert hatten. Die Annahme der Merkantilis­ten, nach der der Handel Reichtum schuf, war schon zuvor von der auf den französischen Ökonomen François Quesnay zurückgehende Denkschule der "Physiokraten" angezweifelt worden, für die Reichtum letztendlich nur auf die Natur, das heißt auf Grund und Boden zurückzuführen sei und daher in Landwirtschaft und Bergbau erzeugt werde. Diese – und nicht der Handel – seien daher von der Regierung zu fördern. (Die Grundherren, die nicht arbeiteten, bezeich­ne­te er dagegen im Unterschied zu den "produktiven" Bauern als "sterile" Klasse.) Die sich mit der Industriellen Revolution einsetzende Entwicklung brachte insbe­sondere in England viele Denker dazu, diesen Ansatz weiterzuentwickeln. 1776 ver­öffent­liche der von der Auf­klärung geprägte schottische Moralphilosoph Adam Smith sein Werk „Der Wohlstand der Nationen“, das ihn zum Begründer der Wirtschaftswissenschaften machen sollte. Smith ging es in seinem Werk – anders als den Merkantilisten – nicht in erster Linie um den Reich­tum des Staates (und der damit bezahlten militärischen Macht), sondern um den (in Geld darstellbaren) Wohlstand der Menschen. Anders als bei Quesnay und den Physiokraten standen bei Smith aber nicht die Bauern, sondern die Arbeiter in der Industrie im Mittel­punkt seiner Analyse. Smith hielt Arbeit, mit der Güter hergestellt wurden, für die Quelle wirtschaftlicher Werte, daher gilt er als Begründer der Arbeitswerttheorie (der Annahme, dass der wirtschaftliche Wert einer Ware im Wesentlichen von der für ihre Her­stellung not­wendigen Arbeitszeit abhängig sei). Berühmt wurden seine Analysen, wie durch Speziali­sierung die Arbeits­produktivität erhöht werden konnte: er beschrieb am Beispiel einer Manufaktur für Stecknadeln, die er einst besucht hatte, wie dort die Arbeitsteilung die Zahl der hergestell­ten Stecknadeln von weniger als 20 pro Arbeiter auf ungefähr 4.800 erhöht hatte. Daraus schloss er, dass die “sinnvolle Teilung und Verknüp­fung aller Arbeitsgänge ... die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern [dürfte].” Er erkannte aber auch, dass mit der Mechani­sierung eine weitere Steigerung der Arbeits­produktivität möglich war. Weiter beschäftigte er sich mit der Rolle des Marktes, der zwischen Produzenten und Konsumenten vermittele. Nach Smith würde die „unsicht­bare Hand des Marktes“ dafür sorgen, dass aus dem Eigennutz der Marktteil­nehmer Gemein­wohl entstünde: „Wir erwarten uns das Abend­mahl nicht von der Wohltätig­keit des Fleischers, Bauers oder Bäckers, sondern von deren Bedacht auf ihre eigenen Interessen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigen­liebe.“ Der Kampf der Einzelnen um ihren Vorteil und ihren Platz in der gesell­schaftlichen Ordnung würde zu einer materiellen Höherentwicklung führen, da sie aus Eigennutz dort investieren würden, wo es der Gemeinschaft am meisten nützt, da das eingesetzte Kapital dort am meisten Gewinn brächte.

Das Buch wurde zur “Bibel des (Wirtschafts-)Liberalismus” – Smith glaubte, dass ein freier Markt die beste Möglichkeit sei, den Anteil der produktiven Manufakturen und Fabriken an der Produktion zu erhöhen und damit den Wohlstand fördern würde. Die Politik der Merkanti­lis­ten, die mit Zöllen heimische Produzenten vor ausländischer Konkurrenz schützen wollte, Zünfte, die über die Privilegien von Handwerken wachten und Adelige, die ihr Geld für über­mäßigen Konsum verschwendeten, hielt er allesamt für Hindernisse sinnvoller wirtschaft­licher Tätigkeit. Reiche sollten am besten in den Kauf von Maschinen investieren, mit denen die Produktivität erhöht werden konnte. Produktiv war Arbeit nur, wenn sie dauerhafte Gegenstände oder verkäufliches Gut erschaffe, Händler und Anwälte, aber auch der Staat, waren daher nicht produktiv. (Der Staat sollte allerdings die äußere Sicherheit sowie das Privateigentum schützen, auf die Einhaltung der Gesetze achten, Monopole verhindern und Zinsen und Bankgeschäfte regulieren, insofern war Smith kein Anhänger eines schwachen Staates, wie mancher seiner Anhänger heute.) Da Smiths Erkenntnisse auch für den Wett­bewerb zwischen den Staaten galt – mit produktiver Arbeit konnte man auch reicher werden, wenn man keine Außenhandelsüberschüsse erwirtschaftete – unterstützten sie auch Vorstellungen von einem freien Handel.

Smiths Ansatz wurde von David Ricardo weiterverfolgt, der sich nach der Lektüre des "Wohl­stands der Nationen" mit der Frage beschäftigte, die ihm bei Smith zu kurz gekommen schien: wie der geschaffene Wert in der Gesellschaft verteilt wurde. Smith hatte erkannt, dass es drei Arten von Einkommen gab: Die Löhne der Arbeiter, die Gewinne der Unter­nehmer und die Renten von Grundbesitzern (Rente wurde hier nicht im Sinne von Alters­versorgung nach dem Arbeitsleben – die es nicht gab – verstanden, sondern als Einkommen ohne Gegenleistung). In seinem 1817 in erster Auflage erschienenem Hauptwerk "Grund­gesetze der Volkswirtschaft und Besteuerung" erklärte Ricardo – darin seinem Freund Thomas Robert Maltus folgend –, dass die Löhne der Arbeiter in erster Linie deren Überleben dienten und dazu "ihre Rasse zu perpetuieren". Eine zentrale Rolle spielten daher die Preise für Lebens­mittel: Sanken diese aufgrund höherer Produktivität in der Landwirtschaft, konnten auch die Löhne sinken, wodurch die Gewinne der Unternehmer stiegen und damit weitere Investitionen und eine wachsende Wirtschaft ermöglichten. Damit wiederum wurde mehr Men­schen eine Lohnarbeit ermöglicht. (Eine wachsende Wirtschaft führt also nicht dazu, dass es den Lohnarbeitern besser ging, sondern dass es mehr von ihnen geben konnte.) Ein Wirtschaftshemmnis waren für Ricardo die Grundherren: Da sie ihre Renten (die sie nur bezogen, da ihnen das Land gehörte, auf dem produziert wurden) nicht produktiv ein­setzten, trugen sie nichts zum Wachstum der Wirtschaft bei. Zudem würde mit wachsender Bevölkerung der Bedarf an Land wachsen, wodurch die Grundherren mehr Geld verlangen und einen wachsenden Anteil am Einkommen erhalten würden. Das Einkommen der Unter­nehmer und damit ihre Fähigkeit (und aufgrund sinkender Gewinne auch Bereit­schaft) zu Investitionen würde sinken. Ricardos Argumentation sollte 1846 zur Abschaffung der Getreidegesetze (corn laws) beitragen, die mit Einfuhrzöllen die einheimische Landwirt­schaft geschützt und damit zur Macht der Grundherren beigetragen hatten. Die Bedeutung der Unternehmer nahm in der Folge auf Kosten der Grund­herren zu. (Im Unterschied zu Smith hielt Ricardo auch den Handel für eine produktive Tätigkeit: für ihn nutzte die Her­stellung von Gütern nichts, wenn diese nicht auch verkauft wurden. Entscheidend war, was ein Händler mit seinen Gewinnen machte – wenn er diese produktiv ausgab, etwa neue Handelsware kaufte, die er gewinnbringend verkaufen konnte, war die Handelstätigkeit als produktiv anzusehen.)

Schon Adam Smith hatte zwar schon das grundsätzliche Potenzial der Mechanisierung für die Erhö­hung der Produktivität erkannt; 1776 war aber noch nicht in vollem Umfang erkenn­bar, welche Rolle die Dampf­maschine schließlich spielen sollte. Arkwrights mit Wasserkraft betriebene Fabrik belegt, dass die Mechanisierung schon vor der verbreiteten Nutzung fossiler Brennstoffe begonnen hatte; aber mit der Nutzung der Kohle konnte die mecha­nische Produktion das ganze Land erobern. Damit änderten sich die Spielregeln in der Wirtschaft: In einer von Handarbeit abhängigen Manufaktur brauchte man die doppelte Anzahl von Arbeitern, um seine Produk­tion zu verdoppeln, hatte also doppelte Lohnkosten und dazu durch ein größeres Absatz­gebiet höhere Transportkosten – eine zu große Manu­faktur war daher weniger lohnend als eine kleine. Eine Fabrik lohnte sich aber erst ab einer bestimmten Größe, und eine doppelt so große Maschine war nicht doppelt so teuer: die Kosten je produzierter Einheit sanken, und daher konnten immer größere Fabriken immer billiger produzieren. In diesem “Skalen­effekt” (engl. economy of scales), der system­theoretisch eine positive Rückkoppelung ist, kann man einen Ursprung des Zwangs zum wirtschaftlichen Wachstum sehen, dem Unternehmen unterliegen: wer nicht immer größer wird, wird von Wettbewerbern überholt, die weiter wachsen. (An seine Grenzen stößt der Skaleneffekt jedoch durch den “abneh­men­den Grenznutzen”, der durch zusätz­lichen Aufwand bedingt wird: Wenn die Transpor­tkosten etwa die eingesparten Stückkosten ausgleichen, lohnt weiteres Wachstum sich nicht mehr.) Ein anderer Ursprung des Wachs­tums­zwangs liegt in der neuen Rolle des Kapitals: Hatten die "Handwerker-Unternehmer" vor und während der frühen industriellen Revolution noch mit relativ wenigen Werkzeugen Waren produziert und für diese Geld erhalten, wurde viel Geld jetzt zur Voraussetzung für die Produktion von Waren: es musste zunächst investiert werden, um Maschinen zu kaufen, mit denen dann Waren produziert werden konnten, die verkauft werden konnten. Das nötige Geld für die Maschinen konnten einzelne Unternehmer nur noch selten aufbringen, es wurde von privaten Kapitalgebern in der Hoffnung auf Gewinne gegeben – die Direktoren und Geschäftsführer der Gesellschaften waren nicht mehr immer die Eigentümer; mit der Industriellen Revolution gewann der Kapitalismus als Industriekapitalismus eine neue Bedeutung.

Industrialisierung, Marxismus und Kapitalismus

Schon vor Karl Marx hatten sozialistische Kritiker die Arbeitswerttheorie von Smith, der auch David Ricardo anhing, zum Ausgangspunkt für die Frage gemacht, warum die Arbei­ter, die ja den Wert schufen, nicht auch die Einkünfte aus dem Verkauf der Waren er­hielten. Diese Frage hatte auch David Ricardo bei seiner Untersuchung der Verteilung des geschaffenen Wohlstands nicht beantwortet. Karl Marx, der 1848 mit Friedrich Engels das "Kommunistische Manifest" ver­öffent­licht hatte, kritisierte den Kapitalismus nicht nur, sondern versuchte auch, diesen zu verstehen. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er in seinem Hauptwerk "Das Kapital", dessen erster Band 1867 erschien (Band 2 und 3 wurden posthum von Friedrich Engels herausgegeben). Darin entwickelte er seine eigene Version der Arbeitswerttheorie: Die Quelle des Wertes war für Marx die Arbeitskraft der Arbeiter, die die Unternehmer mit ihrem Geld kauften. Mit ihrer Arbeit schufen die Arbeiter Werte. Wenn sie mehr arbeiteten, als zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft (also für Wohnung, Nahrung und Kleidung) nötig, schufen sie einen Mehrwert. Der Kapitalismus profitierte für Marx von seiner Fähigkeit, die Produktion so zu organisieren, dass erheb­licher Mehrwert entstand. Diesen Mehrwert erhielten jedoch nicht die Arbeiter (daher wurden sie für Marx "ausgebeutet"), sondern die Kapitalisten, die diesen ansammelten ("Kapitalakkumulation") und wieder in Produktion steckten, um noch mehr Gewinn zu machen. (Die Ausbeutung lag also nicht am Unternehmer, sondern am "System": wer als Fabrikant nicht ständig seine Produktivität erhöht – durch bessere Maschinen und stärkere Ausbeutung der Arbeiter – würde nach Marx von anderen Unternehmern unterboten und vom Markt verdrängt werden. Mit diesem Veränderungsdruck sollte die Industrielle Revolution aber auch zu einem wirksamer Treiber für technologische Neuentwicklungen werden; weniger produktive Gewerbe – wie die vorindustrielle Weberei – wurden verdrängt. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter prägte hierfür später den Begriff "schöpferische Zerstörung".)

Marx stellte sich auch die Frage, wer neben den Arbeitern und den Unternehmern noch an der Produktion beteiligt war. Wie schon David Ricardo gehörten auch für Marx Dienstleistungen zur Produktionssphäre, in der Mehrwert erzeugt wurde, aber auch (und neu) neben dem Handel als Teil der "Zirkulationssphäre" bestimmte Teile des Finanz­sektors. Das Handelskapital "realisiert" für Marx den vom Produktionskapital geschaffenen Wert, in dem es für den Verkauf der Waren sorgt. Da es keinen Mehrwert schafft, als kapitalistische Aktivität aber Profit erwartet, zweigt das Handelskapital letztendlich einen Teil des vom Produktionskapital geschaffenen Mehrwerts für sich ab (womit der durch­schnitt­liche Profit der Wirtschaft geschmälert wird). Daneben gehört zur Zirkulations­sphäre das "zinstragende Kapital", etwa der Banken. Dieses erleichtert die Kapitalbeschaf­fung und verkürzt die Umlaufzeit (der Produzent muss nicht warten, bis er seine Waren verkauft hat, um neue Produktionsmittel einzukaufen), bringt aber auch keinen Mehrwert hervor. Zinsen stehen für die Möglichkeit, durch Investitionen künftig höhere Einkommen zu erzeugen, die sich damit das Produktionskapital und das "zinstragende" Kapital teilen. Diese Aktivität des "zinstragenden Kapitals" ist für Marx produktiv, da sie zur Erhöhung des Mehrwerts beiträgt (im Unterschied etwa zur Aktienspekulation, die nicht zu einer Schaf­fung von Mehrwert beiträgt und daher nicht produktiv ist), führte aber auch zur Abnahme der Bedeutung des Handelskapitals für die Bereitstellung von Geld für die Produktion. Da­neben sah auch Marx den Besitzer knapper Dinge wie Land als Profiteur des Kapitalismus, statt "Renten" sprach er von Mehrgewinnen, die sich aus Monopolen ableiteten. Diese Monopolgewinne hatten auch für Marx nichts mit Wertschöpfung zu tun und gingen daher zu Lasten der Gewinne der produktiv tätigen Kapitalisten.

Marx sah aber auch, dass die Veränderungen durch die "kapitalistische Produktion" nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft insgesamt betrafen. Vor allem die massenhafte Abwanderung von Landarbeitern in die Städte war unübersehbar. Hier waren die Menschen gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern: auch die menschliche Arbeit wurde daher im Kapitalismus zur Ware; Arbeitskraft wird gegen den Arbeitslohn getauscht. Da ihnen die Produktionsmittel nicht mehr gehören und sie zudem in Folge der (von Adam Smith noch gelobten) Arbeitsteilung nur noch einzelne Aspekte der Produktion ausführen, wurde die Arbeit "entfremdet", der Lohnarbei­ter kann (jenseits des Lohns) keine Beziehung mehr zum Ergebnis seiner Anstrengungen herstellen. Die "Entfremdung" der Arbeit und der Warencharakter kapitalistischer Arbeit standen bei Marx für eine Verdinglichung der sozialen Beziehungen im Kapitalismus; der Arbeiter werde durch die Entfremdung zum "Anhängsel der Maschine", die Arbeit werde geistlos und fremdbestimmt, anstatt es dem Menschen zu ermöglichen, seine Fähigkeiten und Talente zu entfalten. Die Höhe der Löhne – der Ausgangspunkt der sozialistischen Überlegungen – hing auf einem Markt dagegen von den Machtverhältnissen ab und wurden durch den "Klassenkampf" geregelt: wenn Arbeiter knapp waren, konnten sie höhere Löhne durchsetzen; Kapitalisten konnten dann aber Maschinen einsetzen und damit die Knappheit beenden und die Löhne wieder drücken. Die Kapitalisten versuchten daher für Marx, eine "Reservearmee" aus Arbeitslosen zu schaffen, mit denen sie die Löhne niedrig halten konnten, was ihren Gewinn erhöhte.

In der Systemlogik, nach der Fabrikanten ständig ihre Produktivität erhöhen müssten, sah Karl Marx auch das für ihn unvermeidliche Scheitern des Kapitalis­mus begründet: Durch die gnadenlose Konkurrenz würden die Profitraten schließlich fallen, Insolvenzen würden zur Monopolbildung führen, durch die Ausbeutung und Elend der Arbeiter wachsen würden – bis diese schließlich in einer "proletarischen Revolution" den Kapitalismus beenden wür­den. (Was auf ihn folgen würden, hatten Marx und Engels bereits 1848 im "Kommunis­tischen Manifest" verkündet: eine klassenlose Gesellschaft ohne Privat­eigentum und Profitstreben und damit ohne Ausbeutung und Entfremdung. Dennoch könne der Kom­munis­mus genügend Produktivkräfte wecken, um das allgemeine Wohl zu mehren.) Manche spätere Ökonomen (wie Joseph Schumpeter) hielten Marx für einen Spitzen­ökonomen, der vieles richtig vorhersah (etwa die Tendenz des Kapitalismus, alles zur Ware zu machen); in anderen Punkten wurde er aber widerlegt (so wird der Preis einer Ware nicht von der darin enthaltenen Arbeit bestimmt, sondern vor allem durch die Nachfrage).

Der Begriff Kapitalismus wurde mit Karl Marx und seiner Analyse der "kapitalistischen Produktionsweise" gebräuchlich, zunächst wurde er in der Regel als Kampfbegriff zur Kritik an Ausbeutung und Entfremdung benutzt. Spätestens mit den Werken von Werner Som­bart (Der moderne Kapitalismus, 1902) und Max Weber (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904) ging der Begriff aber auch in die Soziologie und Wirtschafts­historie ein – und es wurde erkannt, dass der Kapitalismus nicht erst mit der Fabrik­industrie, sondern bereits weit früher entstanden war. Der Handelskapitalismus ist viel älter als die Industrialisierung (und führte trotzt weiter Verbreitung nicht zwangs­läufig zur Indus­trialisierung); anderseits ist, wie später das Beispiel der Sowjetunion zeigen sollte, Industrialisierung auch ohne Kapitalismus möglich – beide Begriffe sollten daher getrennt werden. Dennoch sind Industrialisierung und Kapitalismus eng verknüpft: Zum einen beförderten vorindustrielle Gewerbe die Industrialisierung, zum anderen sind die planwirtschaftlichen Alternativmodelle alle gescheitert. Die enge Bindung zwischen Kapitalismus und Industrialisierung ergab sich aus dem hohen Kapitalbedarf für die immer größer werdenden Fabriken.

Zur proletarischen Revolution ist es aber nicht gekommen: das Feedback der Märkte er­wies sich als besseres Mittel als zentrale Planungen, um die Investitionen an der richtigen Stelle einzusetzen. Dennoch geronnen Marx' (mitunter auch veränderten) Ideen zur Welt­anschauung, dem Marxismus, auf die sich im 20. Jahrhundert Revolutionäre in Russland, China, Vietnam und anderen Ländern beriefen (mehr). Insgesamt aber bestimmte mit der Industrialisierung der Kapitalismus immer größere Teile der Welt – zum einen, indem die Industrialisierung immer neue Länder erreichte, zum anderen durch die von etwa 1860 bis 1915 und wieder seit etwa 1960 (und noch einmal beschleunigt seit 1990) einsetzende Globalisierung. Mit dem Erfolg der Industriellen Revolution und der vor diesem ausgelösten Verstädterung und durch technische Innovationen wie die Eisenbahn, die schließlich im 20. Jahrhundert einen dynamisch ansteigenden Massenkonsum ermöglichten, gewann auch der Handelskapitalismus weiter an Gewicht; der Kapitalbedarf der Industrialisierung führte zudem zu einer schnellen Ausweitung des Finanzkapitalismus. Der Agrarkapitalismus brei­tete sich ebenfalls aus, zunächst jedoch vor allem durch die Ablösung der alten Feudal­ordnung. Schließlich schwappten aber technische Innovationen aus dem industriellen Gewerbe (industrielle Kunstdünger, Mechanisierung) in die Landwirtschaft über und ließen eine industrielle Landwirtschaft entstehen.

Die Rolle der Eisenbahn

Die Dampfmaschine hatte Kohle in großen Mengen verfügbar und billig gemacht, und so die Metallherstellung von ihrer Abhängigkeit von Holzkohle befreit. Damit wurden Eisen und Stahl zum bevorzugten Material im Maschinenbau. Das Wirtschaftswachstum in England betrug Ende des 18. Jahrhunderts acht bis zehn Prozent pro Jahr – vergleichbar mit China heute. 1786 gab es in Manchester die erste dampfbetriebene Textilfabrik, um 1800 waren es bereits fünfzig. Die wachsende Produktion verschärfte jedoch ein Problem, dass schon die Kohlebergwerke hatten: wie konnte man die Kohle oder die Ware transportieren? Straßen waren schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verstärkt gebaut worden, aber von Pferde gezogen Fuhrwerke konnten keine große Mengen transportieren. 1761 wurde für den Kohletransport nach Manchester – nach dem Vorbild des französischen Canal du Midi, der schon seit 1681 zusammen mit der Garonne Mittelmeer und Atlantik verband – der Bridgewater Kanal für den Transport von Kohle nach Manchester gebaut, dessen Erfolg eine canalmania in England auslöste. In den nächsten 50 Jahren wurden weitere 6.500 Kilometer Kanal gebaut. Aber Kanäle waren extrem aufwändig und teuer. Kurze Wege hatte man daher mit Holzbalken für die Kohlewagen befahrbar gemacht. 1767 wurden zum ersten Mal gusseiserne Schienen verlegt; auf diesen “tramways” zogen Pferde die beladenen Wagen. 1784 baute Watts Freund und Partner William Murdoch die erste mobile Dampf­maschine und 1804 Richard Trevithick die erste Dampflokomotive als Zugmaschine für eine Bergwerks-Schienenbahn: Dies sollte die Geburtsstunde der Eisenbahn sein. Allerdings war der erste Zug für die gusseisernen Schienen zu schwer – sie zerbrachen. Erst 1812 konstruierte der Ingenieur John Blenkinsop eine Bahn, die schwere Lasten aushielt. Die erste, 1825 eingeweihte Dampfeisenbahn baute George Stephenson zwischen Stockton und Darlington, auf ihr wurden noch ausschließlich Güter transportiert. Die erste Fern­bahn­linie vom Baumwollhafen Liverpool in die Textilstadt Manchester ging 1830 in Betrieb, sie transportierte erstmals auch Personen – die Eröffnung machte damals weltweit Schlag­zeilen, weil ein bekannter britischer Politiker dabei unter die Räder der Bahn geriet und starb. Den Siegeszug der Eisenbahn konnte das aber nicht aufhalten: 1850 gab es bereits 10.655 Kilometer Eisenbahnschienen in England, 1900 dann bereits 35.198 Kilometer. 1884 war auch des Hin und Her der Kolben durch die wirkungsvollere Dreh­bewegung der Dampf­turbinen ersetzt worden.

Die Eisenbahn hat den Transport von Waren und Menschen über Land schneller und billiger gemacht – und damit die Welt verändert. Bauern trieben ihre Tiere nicht mehr zum Markt in die nächstgelegene Stadt, sondern zum Bahnhof, wo Händler sie aufkauften und mit der Bahn in die großen Städte brachten. Das Geld, was die billigeren Reisen überließen, erhöhte die Kaufkraft der Konsumenten; und jetzt gelangten frische Milch und frisches Fleisch in die Städte. Auch die Bauweise veränderte sich: hatte man früher notgedrungen Baumaterialien aus der Umgebung verwendet, brachte die Eisenbahn billige Ziegel ins ganze Land. Damit verschwanden auch lokale Baustile, überall ähnliche "moderne" Entwürfe setzten sich durch. Die Mobilität der Menschen nahm ebenfalls zu, und in der Folge heirateten viele Menschen nicht mehr, wie Anfang des 19. Jahrhunderts noch üblich, in ihrem Dorf oder höchstens im Nachbardorf, sondern Menschen aus ganz anderen Regionen. Viele Menschen kamen mit den Veränderungen freilich auch nicht zurecht und litten unter dem Zusammenbrachen der traditionellen Dorfstrukturen, viele von ihnen landeten entweder in den "Irrenhäusern", die ab 1845 jede Grafschaft in England eröffnen sollte, oder als Bettler in den Städten. Aus Sicht der Produzenten vergrößerten der Zugang in entfernte Regionen und die billigeren Preise vor allem die Märkte – auf größeren Märkten rentieren sich große Maschinen aber noch leichter. Damit förderte die Eisenbahn das Fabrikwesen ungemein.

Textilindustrie, Eisen- und Stahlindustrie und die Eisenbahn waren die Pfeiler der Industrialisierung

Die Nutzung der Kohle vergrößerte scheinbar die Fläche und Bevölkerungszahl Englands: Im Jahr 1815 nutzte England 23 Millionen Tonne Kohle – um eine entsprechende Energiemenge aus Holz zu erzeugen, hätte das ganze Land mit Wald bestanden sein müssen. Jetzt konnte man das Land anders nutzen. Hinzu kam noch, dass das industrialisierte England auch weniger Flächen für die Landwirtschaft brauchte: Es konnte nämlich seine industriell herge­stellten Waren gegen Getreide aus Amerika und Russland und Zucker aus der Karibik ein­tauschen. Die aus der Kohle stammende Energie leistete zudem etwa die Arbeit von 50 Millionen kräftigen Männern – zu einer Zeit, als die gesamte Bevölkerung 13 Millionen Menschen betrug, England also vielleicht über drei Millionen kräftige Männer verfügte. Land und Menschen waren damals aber die wichtigsten Machtfaktoren, und so lassen die Zahlen ahnen, wie sehr Englands Bedeutung mit der Industriellen Revolution stieg.

Die Bedeutung fossiler Energien

Weit über 90 Prozent unserer Geschichte, die wir als Jäger und Sammler verbrachten, waren wir Menschen vor allem auf unsere eigene Muskelkraft angewiesen, deren Wirksamkeit nur durch Werkzeuge wie Pfeil und Bogen erhöht wurde; dazu kam seit der Erfindung des Feuers die Nutzung von Biomasse (meist in Form von Brennholz). Mit der Domestizierung großer Tiere wurde auch deren Muskelkraft dem Menschen nutzbar gemacht, und mit Wasser- und Windmühlen sowie Segeln wurde schon in der Vorgeschichte die (bescheidene) Nutzung erneuerbarer Energiequellen begonnen (mehr).

Mit der Ausbeutung fossiler Energiebestände, die während geologischer Zeiträume ent­standen waren, vervielfachte sich das verfügbare Energieangebot in kürzester Zeit: in England konnten schon bald nach Beginn der Industrialisierung kohlebefeuerte Dampf­maschinen die Arbeit von 50 Millionen “Energiesklaven” leisten. Dabei wurde aber nicht nur die Menge der geleisteten Arbeit vervielfacht, sondern noch wichtiger: es wurden Arbeiten möglich, die selbst Millionen Arbeitskräfte nicht hätten leisten können; etwa das Schmelzen von Eisen. Die Nutzung fossiler Energie befreite die Menschen von seit Jahrtausenden bestehenden Grenzen; sie schien es ihnen zu ermöglichen, ihre tierische Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Sie bilden auch heute noch die Basis moderner Industriegesellschaften (mehr). Die Nutzung fossiler Energien verstärkte alle Faktoren, die dem Menschen schon im Zeitalter der Landwirtschaft erlaubt hatte, sich einen immer größeren Anteil an den Energie- und Stoffflüssen der Erde zu sichern (hier): Sie waren eine zusätzliche Energiequelle, mit der neue Werkzeuge (Dampfmaschine...) angetrieben werden konnten, die den Handel beförderte (Eisenbahn, Dampfschiff) und die eine neue Dimension der Ausbeutung von Rohstoffen (Kohlebergbau) bedeutete. Sie sollte dazu beitragen, diesen Anteil auf 40 Prozent zu steigern und vervielfachte die Folgen menschlicher Aktivitäten für die Umwelt (hier). Dies ist ein ungelöstes Problem, wenn wir etwa an den Klimawandel denken.

Das andere Problem besteht darin, dass die fossilen Brennstoffe im Zeitrahmen mensch­lichen Handelns nicht erneuerbar sind. Beim Öl ist der Höhepunkt der Förderung schon erreicht oder nahe bevorstehend (hier). Das Zeitalter der fossilen Energien wird daher historisch eine Episode bleiben, die zu Ende geht, lange bevor die fossilen Brennstoffe ausgehen, weil die Förderung der verbliebenen Bestände immer schwieriger und teurer wird. Die Frage, wie Industriegesellschaften ohne fossile Energien aussehen können; ist offen. Den aktuellen Stand der Überlegungen finden Sie hier.

Westeuropa zieht nach

Um 1800 war Englands Vorsprung für seine europäischen Nachbarn unübersehbar gewor­den; zumal die billigeren englischen Industriewaren auch den Handwerkern in anderen Ländern Konkurrenz machte. Immer dringlicher schien es daher, die notwendigen Kenntnisse auch zu erwerben und anzuwenden. Die Voraussetzung für die Aufholjagd wurde im Gefolge der Französischen Revolution geschaffen: In großen Teilen Europas brach die alte politische Ordnung zusammen; die Befreiung der Bauern und die Abschaffung der Zünfte schafften Gewerbefreiheit – jeder konnte nahezu jedes Gewerbe ausüben. Wo es Kohle und Eisenerz gab, entstehen danach mit der Einführung riesiger, dampfgetriebener Maschinen Fabriken – und erste Industriegebiete: in Belgien, im Nordosten Frankreichs, im Rheinland und im Ruhrgebiet. Die Region von England bis zum Ruhrgebiet wurde daher auch schon der “Kohle-Halbmond” genannt, um seine Bedeutung für die Industrielle Revolution analog zum “fruchtbaren Halbmond” für die Entstehung der Landwirtschaft zu betonen. Um den Vorsprung Englands aufzuholen und um sich die inzwischen zwei Generationen lang weiter­entwickelten Maschinen leisten zu können, um passende Gebäude und – vor allem – ein Eisenbahnnetz aufbauen zu können, brauchten die Nachzügler vor allem eins: Geld. Es ent­standen überall in Europa neue Banken und Kapitalgesellschaften – wer Geld hatte, konnte sich mittels Aktien und anderen Titeln an den neuen Unternehmungen beteiligen. So wurde in Frankreich die von Jakob Rothschild geleitete Filiale der von dem nach England ausge­wanderten Nathan Mayer Rothschild gegründeten Bank N.M. Rothschild and Sons zum Finanzier des Eisenbahnbaus; ihr zur Seite stand die von den Brüdern Jacob Émile und Isaac Péreire gegründete Bank Société Générale du Crédit Mobilier (sie bot zur Finanzie­rung Schuldverschreibungen an und beteiligte sich mit den so eingesammelten Mitteln beteiligte an zahlreichen Unternehmen. Bereits im ersten Jahr, 1853, zahlte sie eine Dividende von 40 Prozent). Der Crédit Mobilier finanzierte große Teile des Eisenbahnbaus in Österreich-Ungarn, Russland und Spanien, auch englische, deutsche und später auch amerikanische Banken investierten in den Eisenbahnbau und die Industrialisierung – ab Mitte des 19. Jahrhunderts war die Industrialisierung Westeuropas in vollem Gang.

Deutschland war dabei zunächst ein Nachzügler gewesen. In Preußen wurden die Bauern erst nach längerem Zögern im Jahr 1807 aus der Leibeigenschaft entlassen, 1810 wurden die Stände aufgelöst und die Gewerbefreiheit eingeführt; 1834 schlossen sich die Regierun­gen der deutschen Staaten zum Zollverein zusammen und ermöglichten damit einen gemein­samen, großen Markt. 1835 fuhr auch in Deutschland die erste Dampfeisenbahn – die „Adler“ – auf der Strecke von Nürnberg nach Führt. 1850 gab es in Deutschland bereits 11.089 Kilometer Eisenbahnlinie, 1900 waren es dann 51.678 Kilometer. Der Eisenbahnbau schuf wie in England Transportwege, verband die Märkte und förderte die Eisenindustrie und den Maschinenbau. Im Ruhrgebiet fanden sich große Mengen der für die Koksherstel­lung geeigneten Fettkohle, wodurch die zuvor ländliche Region zu einem der wichtigsten Industriereviere wurde. Als "Gründervater" des Ruhrgebiets gilt der Unternehmer Friedrich Harkort, der 1819 in Wetter an der Ruhr die "Mechanischen Werkstätten Harkort & Co." gründete, die zunächst Dampf­maschinen herstellten. Diese fanden im beginnenden Kohle­bergbau einen großen Markt; 1826 führte Harkort das Puddelverfahren in Deutschland ein. Seine Unternehmen gossen u.a. Eisenbahnschienen für den Bergbau, und Harkort setzte sich früh für den Bau von Fernbahnen in Deutschland ein. Mit Kohle und dem Eisenbahnbau gewann die industrielle Revolution auch in Deutschland an Schwung; die Produktion von Eisen und Stahl stieg in manchen Jahren um 30 bis 50 Prozent. Unternehmer wie August Borsig, der 1836 das erste deutsche Werk für Lokomotivenbau gegründet hatte (der Borsig­platz in Dortmund ist nach seinem Sohn Alfred benannt, der 1872 in Dortmund die "Maschinenfabrik Deutschland" mitbegründete), und Alfred Krupp, der aus der 1812 von seinem Vater Friedrich gegründe­ten Gussstahlfabrik das größte Industrieunternehmen Europas machte, kamen zu großem Reichtum (Friedrich Harkort dagegen nicht – was auch daran lag, dass er jedem, auch seinen Konkurrenten, seine Fabriken und Produktions­verfahren zeigte, um die Industriali­sierung des Landes voranzubringen). Die deutsche Industrie profitierte auch davon, dass sich der Freihandel (im Umsetzung von Smith's Idee des freien Wettbewerbs zwischen den Staaten) ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend durchsetzte: Vor allem die englischen Baumwollproduzenten suchten neue Märkte; wollte man aber in diese exportieren, durfte man deren Ausfuhren nicht behindern. So fielen Schutzzölle und andere Handels­beschrän­kungen wie Schifffahrtsgesetze, die nur der britischen Marine den Transport in englische Häfen erlaubt hatten. Vergleichsweise niedrige Löhne bei hohem technischen Standard führten um 1880 herum dazu, dass die deutsche Industrieproduktion erstmals die englische übertraf. Dabei kam es zu einer "Westwanderung" – Menschen aus dem landwirtschaftlich geprägten Osten wanderten in die Industriegebiete des Westens (ähnlich kam es in Groß­britannien zu einer Süd- und in Frankreich zu einer Nordwanderung).

Technik unter Kontrolle

Immer wieder explodierten in den ersten Jahrzehnten der Industriellen Revolution die Dampfkessel: Mit Drücken von bis zu 10 Atmosphären wussten viele Ingenieure nicht umzugehen, die Anlagen wurden oft von ungelernten Tagelöhnern bedient. Nach der Explosion eines Dampfkessels in der Mannheimer Brauerei Mayerhof im Januar 1865, bei der der Kesselbursche ums Leben kam und Teile der Wände des Brauhauses einstürzten, wurde auf Druck des badischen Handelsministerium eine “Gesellschaft zur Überwachung und Versicherung von Dampfkesseln” gegründet, deren Techniker zweimal im Jahr die Dampfkessel der Mitglieder kontrollierten. Zuerst war die Mitgliedschaft freiwillig, aber bald wurde die jährliche Inspektion zur gesetzlichen Pflicht, und auch die anderen Bundes­staaten gründeten Überwachungsvereine. Bald stellten diese auch Normen zum Bau von Dampfkesseln und anderen technischen Anlagen auf; 1936 änderten sie ihren Namen in “Technische Überwachungsvereine” (TÜV). Heute haben sie ihr Monopol für die Prüfung technischer Anlagen verloren, aber deren Prüfung (heute durch "zugelassene Über­wachungsstellen") ist immer noch ein wesentlicher Bestandteil des technischen Arbeitsschutzes.

Auf dem Weg zur Weltmacht: Die USA

Noch schneller als Europa kam aber Nordamerika voran. Im Norden der späteren Vereinig­ten Staaten blieb der Landbesitz vor der Mechanisierung klein und mehr oder weniger gleich­mäßig verteilt, Familienbetriebe herrschten vor. Das Ideal der USA, ein Land freier Menschen zu sein, schloss die Gewerbefreiheit ein; zugleich brachte mancher Einwanderer handwerkliche Kenntnisse mit – ein Nährboden für Unternehmertum. Nach englischem Vorbild entstanden bald nach der Besiedelung erste Manufakturen – und zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien im Jahr 1776 gab es dort bereits etwa 200 Eisenhütten. Die Amerikaner übernahmen nicht nur schnell englische Maschinen, sondern verbesserten diese und exportierten sie bald sogar nach England. Dabei spielte die Kohle in Amerika zunächst eine wesentlich geringere Rolle bei der Industrialisierung als in Europa – bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden vor allem Holz aus den riesigen Wäldern und Wasserkraft genutzt, auch Lokomotiven und Flussschiffe fuhren mit Holz. Erst ab 1880 sollte in großem Maßstab Kohle genutzt werden, die in Pennsylvania, West Virginia, Kentucky und Tennessee reichlich vorhanden war. In Pennsylvania wurde sie zur Grundlage für den Aufbau einer Schwerindustrie. Der Arbeitskräftebedarf wurde von Millionen von Einwanderern gedeckt, die in großer Zahl ins Land kamen. Dazu trug auch das Dampfschiff bei, das ab 1840 regelmäßig die alte und die neue Welt verband und die Passagen schneller, weniger vom Wind abhängig und billiger machte. Das erste hochseetaugliche  Dampfschiff, die von dem britischen Ingenieur Isambard Kingdom Brunel gebaute SS Great Western, brauchte für die Atlantiküberquerung noch 14,5 Tage, 1855 schafften neue Schiffe sie schon in 9,5 Tagen (und 1900 in 5,5 Tagen). Die Einwanderer konnten sich aber oft unter­einander kaum verständigen, und sollten damit zum eigentlichen amerikanischen Beitrag zur industriellen Revolution beitragen: Mit einfachen Arbeitsvorgängen wurde die industrielle Fertigung stark vereinfacht, das Können von Fachkräften war kaum noch gefragt. Die amerikanischen Ingenieure sollten die Herstellung standardisierter Bauteile (das “amerika­nische Fabrikwarensystem”) bei der Produktion von Gewehren für den Bürgerkrieg lernen – und dies sollte dazu beitragen, dass um 1890 herum die amerikanische Industrie­produktion die Deutschlands und Englands übertraf.

Ein wesentlicher Schritt hierzu war die endgültige Erschließung des amerikanischen Westens nach dem Bürgerkrieg, deren Symbol die Fertigstellung der ersten transnationale Eisenbahnlinie im Jahr 1869 durch die beiden Bahngesellschaften Union Pacific Company und Central Pacific Company war. Sie wurde auch zum Symbol für ein neues Zeitalter: Wie schon in Europa förderte der Eisenbahnbau – im Jahr 1900 gab es in den USA 354.000 Kilometer Gleise, mehr als in Gr0ßbritannien, Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland zusammen – die Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie sowie den Maschinenbau, und etwas später auch die Kohleförderung an der Ostküste. Sie schuf zudem Zugang zu den Bodenschätzen und dem Holz des Westens; im Mittleren Westen und den Great Plains wurde Viehzucht betrieben, um die wachsenden Städte mit Fleisch zu versorgen. In dieser auch "gilded age" (vergoldetes Zeitalter) genannten Blüte­zeit des Kapitals entstanden Reichtümer, die bis heute sprichwörtlich sind: Cornelius Vanderbilt machte sein erstes Geld mit 16 Jahren mit einem Segelboot, mit dem er einen Fährdienst von New York nach Staaten Island betrieb, und baute eine Flotte auf. 1818 verkaufte er seine Flotte und verdingte sich als Dampfschiffkapitän; 1829 gründete er eine eigene Dampfschiffgesellschaft, die in den 1850er Jahren eine Flotte von 100 Schiffen umfasste. 1847 investierte er in die New York, Providence and Boston Railroad, seiner ersten Eisenbahn; und nach dem Bürgerkrieg investierte er massiv in dieses neue Transport­mittel. 1873 eröffnete er etwa die Eisenbahnlinie New York – Chicago. Mit diesen Investitionen wurde er zum damals reichsten Amerikaner. Die Eisenbahn sollte auch andere reich machen: Der Leiter der Western Division der Pennsylvania Railroad, Andrew Carnegie, verließ diese 1865 und investierte in zahlreiche Unternehmen – vor allem Eisenhütten und -werke. Auf Besuchen in England kam er zu dem Schluss, dass Gusseisen zunehmend von Stahl verdrängt werden würde und stellte ab 1870 selber Stahl nach dem Bessemer-Verfahren her. Als er sein Unternehmen 1901 an den Bankier John Piermont Morgan verkaufte, war er nach Vanderbilt der zweitreichste Amerikaner. John Piermont Morgan hatte sein Geld, zunächst für das in London ansässige väterliche Bankhaus, ab 1871 mit dem mit einem Partner gegründeten Bankhaus Drexel, Morgan & Co. (das 1895 zu J.P. Morgan & Co. umfirmierte), mit der Finanzierung der Eisenbahngesellschaften gemacht. Mit dem Kauf von Carnegies Stahlwerken, die er mit seinen eigenen zur United States Steel Company verschmolz, schuf er die damals größte Aktiengesellschaft der Welt. Übertroffen wurde der Reichtum dieser drei Männer aber noch von dem John D. Rockefellers, der sein Geld mit Erdöl machte (Eine kleine Geschichte des Erdöls) und zum ersten Milliardär der Erde wurde. Auch der Aufstieg dieser Männer aus teils einfachen Verhältnissen – Carnegie begann als Telegraph, Rockefeller als Buchhalter – trug zum amerikanischen Mythos, dass man es hier durch Arbeit und Geschäftssinn vom Tellerwäscher zum Millionär bringen könne, bei. Dieser Glaube ließ den Zustrom an Arbeitskräften nicht abreißen.

Die USA wurden auch zum Vorreiter der Industrialisierung der Landwirtschaft, um die wachsenden Industriestädte mit billiger Nahrung zu versorgen. In den großen Schlachthöfen von Chicago wurde das Fließbandsystem zur Zerteilung der Rinder eingeführt. Ende des 19. Jahrhundert begann der Ingenieur Frederick W. Taylor (“Taylorismus”), industrielle Arbeitsvorgänge in einzelne Schritte zu zerlegen und deren Dauer mit der Stoppuhr zu messen – ein weiterer Ausgangspunkt für Rationalisierung und spätere industrielle Fließ­band­produktion. Die amerikanische Produktivität setzte damit die Maßstäbe für die Welt. Die Massenproduktion machte in dem seit der Jahrtausendwende zudem bevölkerungsreichsten Land der westlichen Hemisphäre einen Massenkonsum möglich, und so sollten Telefon und Auto in Nordamerika bereits selbstverständlich sein, als sie in Europa noch als Luxus für Reiche galten.

Die sozialen Folgen der Industrialisierung

Die massenhafte Lohnarbeit in der Industrie führte nicht nur dazu, dass Arbeiter und Angestellte eine von Marktprinzipien geprägte Tauschbeziehung eingingen, sondern es entstand auch ein ungleiches Herrschaftsverhältnis mit vielfältigen sozialen Folgen. Bauern, die aus der Leibeigenschaft befreit worden waren, waren mit den Worten von Karl Marx “doppelt frei”: Frei von der Abhängigkeit, aber auch frei vom Schutz des Grundherrn und jedem Eigentum. Sie wanderten vom Land in die entstehenden (Industrie-)Städte. Auch viele Handwerker verloren aufgrund der viel billigeren Preise für Industrieprodukte ihre Arbeit. Das Überangebot machte Arbeitskraft billig. Die Lebensbedingungen für die Arbeiter waren in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung noch schlechter als zuvor: Industriearbeit war Knochenarbeit und oftmals trostlos (auch diese Folge der Arbeits­teilung hatte lange vor Karl Marx schon Adam Smith gesehen: “Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, die zudem immer das gleiche Ergebnis ... haben, hat keinerlei Gelegenheit, seinen Verstand zu üben. ... So ist es ganz natürlich, dass er so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann”); die Städte waren dem Ansturm nicht gewachsen. Zu beengten Wohnverhältnissen kam noch der Rauch der Industrie: In Manchester starben 1840 sechs von zehn Kindern, bevor sie fünf Jahre alt werden konnten – doppelt so viele wie auf dem Land. Die Löhne reichten gerade zum Überleben, bei Arbeitslosigkeit – die in Zeiten von Wirtschaftskrisen drei Viertel der Arbeiter betreffen konnte – hatten die Armen oft nicht genug Geld für aus­reichendes Essen. Da trotzdem immer mehr Menschen aus den landwirtschaftlich gepräg­ten Gebieten (in denen noch mehr Menschen hungerten) in die Industrieregionen zogen, konnten die Löhne auf dem Minimum verbleiben; Frauen und Kinder waren zur Mitarbeit gezwungen – was die Löhne weiter sinken ließ. Kein Wunder, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz im Zeichen der sozialen Frage stand.

Aber es gab auch Gewinner – die Unternehmer: Am Anfang waren es oft Handwerker, die die neuen Techniken beherrschten; mit zunehmender Größe der Betriebe musste er hand­werkliches Können, kaufmännische und organisatorische Talente in sich vereinigen – vor allem musste er wissen, wie er die Arbeiterschaft disziplinieren konnte. (Die Regel­mäßigkeit der Fabrikarbeit war ja etwas Neues – vorher hatten Aufgang und Untergang der Sonne den Tagesrhythmus bestimmt, jetzt die Uhr; und zur Durchsetzung der neuen Anforde­run­gen wurden harte Strafen für kleinste Vergehen in "Fabrikordnungen" fest­gelegt.) Viele der Gründer kamen selber aus bescheidenen Verhältnissen, etwa Friedrich Krupp und Werner von Siemens. Ein Aufstieg wie ihrer wäre vor den Umbrüchen der industriellen Revolution unmöglich gewesen. In der Phase des explosiven Wachstums wurden aus kleinen Unter­nehmen oft riesige Konzerne: Krupp wuchs von 76 Arbeitern im Jahr 1847 auf 20.000 im Jahr 1887. Das musste auch zu einer Systematisierung von Unternehmensstrukturen füh­ren: Unternehmen wurden geplant und erhielten eine hierarchische Struktur.

Eine neue Ökonomie

Unterdessen hatten auch die Wirtschaftswissenschaftler erkannt, dass die Erkenntnisse der von Adam Smith und Devid Ricardo begründeten klassischen Ökonomie nicht alle Fragen beantworten konnten: Der Markt regelte Angebot und Nachfrage nicht immer perfekt, Kurs­stürze an den Börsen wie die von 1836/37, 1847 und 1857 (mehr) und die weiter anhalten­de Armut der Arbeiter verlangten nach Antworten. Der englische Ökonom John Stuart Mill, der 1848 die klassische Ökonomie in seinem Buch "Grundsätze der politischen Ökonomie” zusammengefasst hatte, forderte, zur “gerechten Verteilung der Früchte der Arbeit” müsse der Staat dort eingreifen, wo Märkte nicht funktionieren – etwa beim Eisenbahnbau, wo es Monopole zu verhindern gälte. Außerdem sollten die unteren Klassen durch Bildung zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt werden.

Die von Karl Marx vorhergesagte proletarische Revolution hatte jedoch nicht stattgefunden (wohl aber waren Gewerkschaften und sozialistische Parteien entstanden, die auf erheb­lichen Zuspruch stießen); ebensowenig war die von Malthus vorhergesagte Nahrungsmittel­knappheit eingetreten. Stattdessen herrschte ein von den naturwissenschaftlich-tech­nischen Fortschritten inspirierter Fortschrittsglaube. Auch die Ökonomen versuchten, ihre Arbeit auf eine vergleichbare "wissenschaftliche" Grundlage zu stellen. Ergebnis dieser An­strengungen war die "Grenznutzenschule" der Neoklassiker, die unabhängig voneinander von Carl Menger in Österreich, dem in der Schweiz arbeitenden französischem Ökonomen Léon Walras und den Briten William Stanley Jevons und Alfred Marshall entwickelt wurden. Menger vermutete, der Wert einer Ware werde nicht, wie von der Arbeitswert­theorie der klassischen Ökonomie vermu­tet, von den Produktionskosten, sondern ihrem Nutzen bestim­mt. Walras, Jevons und Marshall packten diese Idee in mathematische Gleichungen: Der Nutzen für den Kunden entscheidet darüber, wie viel dieser für ein Produkt auszugeben bereit ist. Da der Nutzen um so größer ist, je knapper ein Gut ist und abnimmt, je mehr es von dem Gut gibt (0003), wurde hierfür die mathematische "Grenznutzenfunk­tion" ent­wickelt. Um­gekehrt sinken bei zunehmender Produktion die Kosten pro Stück, das wird in der "Grenz­kosten­funktion" dargestellt. Diese beiden Kurven kann man übereinander­legen: Wenn sich kein Käufer mehr findet, dem eine Ware ihren Preis wert ist, wird sich die Produk­tion so einpegeln, dass die Grenzkosten erreicht werden. Das System befindet sich in einem "Gleichgewicht" (das die bekannten Darstellungen von sich schneidenden Angebots- und Nachfragekurven abbilden).

Das bedeutet aber, dass Waren keinen objektiven (etwa durch die Produktionskosten be­stimmten) Wert mehr haben, sondern der Wert in Form des Preises durch die vom Grenz­nutzen bestimmte Nachfrage bestimmt wird. Diese Überlegung galt für die Neoklassiker für alle Märkte: so konnte für sie auch nicht von Ausbeutung der Arbeiter die Rede sein – der Arbeiter erhielt für seine Arbeit den Lohn, der ihm der Verkauf seiner Freizeit wert war. Wer für den angebotenen Lohn nicht arbeitet, dem ist schlicht der Genuss seiner Freizeit mehr wert, Arbeitslosigkeit ist für Neoklassiker also eine freiwillige Entscheidung. Von Marx' "in­dus­trieller Reservearmee" konnte für die Neoklassiker also keine Rede sein; ohnehin war die Vorstellung eines "natürlichen Gleichgewichts" zwischen Angebot und Nachfrage das Gegen­modell zu Marx' Klassenkampf. Aber die Neoklassiker wussten auch, dass die Umsetzung ihrer Vorstellungen einige Voraussetzungen hatte, etwa der, dass Kunden den Nutzen eines Produktes für sich tatsächlich objektiv erkennen konnten (daher die Vorstellung des Men­schen als jederzeit rational handelnder "Homo oeconomicus"), oder der, dass die Preis­bildung vollständig im Markt erfolgt und nicht z.B. durch Monopole beeinflusst wird. Wenn es Probleme gibt, liegen diese für Anhänger der neoklassischen Theorie immer darin, dass ihre Vorstellungen mangelhaft umgesetzt werden, irgendwelche Hemmnisse also die Bildung eines Gleichgewichts verhindern. Diese zu beseitigen, ist Aufgabe des Staates.

Mit der Neoklassik wurde die Mathematik in die Wirtschafts­wissenschaft eingeführt; das Los der Arbeiter verbesserte sich aber vor allem dank politischer Reformen aus Angst vor der erstarkenden Sozialdemokratie (mehr) – und der Erkenntnis der Unternehmer, dass sie ihre Arbeiter auch für den Konsum brauchen. Irgendjemand musste die in großen Mengen her­gestellten Waren ja kaufen; mit diesem Gespür waren die Unternehmer den Wirtschafts­wissenschaft­lern voraus, die die Nachfrage erst später als fundamentalen Faktor begreifen sollten (mehr). Weiter musste man mit der neoklassischen Theorie auch nicht mehr – wie in der klassischen Öko­nomie – über produktive und unproduktive Tätig­keiten nachdenken: alles, was bezahlt werden muss, ist per Definition (da es einen Preis besitzt) wertvoll, sein Entstehungs­prozess also produktiv. Das hat unter anderem Auswirkungen auf die Bewertung von "Renten": galten sie der klassischen Ökonomie noch als "unverdientes Einkommen", gibt es solches laut neoklassischer Theorie nicht mehr: da der Preis den Wert bestimmt, müssen auch die Einnahmen aus Renten produktiv sein. In der neoklassischen Ökonomie gelten Ren­ten aber dennoch als Hemmnis für die Entfaltung eines freien Marktes, da sie den Zugang von Produzenten und Konsumenten zum Markt erschweren; größere Auswirkungen hat der neoklassische Wertbegriff bei der Art und Weise, wie wir unseren Wohlstand messen.

Das Bruttoinlandsprodukt

Der neoklassische Wertbegriff liegt auch modernen Versuchen zugrunde, den Wohlstand von Staaten zu messen. Zwar war vielen Ökonomen klar, dass dieses unzureichend ist: 1920 forderte Arthur Cecil Pigou (ein früherer Student Alfred Marshalls und dessen Nachfolger als Professor für Politische Ökonomie in Cambridge) in seinem Buch "The Economics of Welfare", dass auch solche Aspekte der Wohlfahrt in die Betrachtung einbezogen werden müssen, die nicht "mit dem Zollstock des Geldes in Beziehung zu bringen" sind, die wirt­schaftliche Wohlfahrt trage zur gesamnten Wohlfahrt bei, sei aber nicht mit dieser iden­tisch. Praktische Bedeutung erhielt die Messung des Wohlstands in der Weltwirtschafts­krise: Pigous Schüler Simon Kuznets schätzte deren Folgen für die USA ab. Kuznet schloss in seine Berechnungen staatliche Zahlungen an Haushalte ein, da diese von diesen für den Kauf von Waren ausgegeben werden konnten, zog von diesen aber wieder einen Anteil ab, der nach seiner Ansicht nicht zum materiellen Lebensstandard beitrug (z.B. Gewerkschafts­beiträge) – womit er durch die Hintertür wieder zwischen produktiven und unproduktiven Beiträgen unterschied. Andere Staatsausgaben als direkte Zahlungen Haushalte berück­sichtigte er aber nicht. Das sollte aber nicht so bleiben, denn 1940 machte der in der Weltwirtschaftskrise zu Einfluss gekommene John Maynard Keynes in seinem Buch "How to Pay for the War" einen anderen Vorschlag: da Staatsausgaben, wie die Kriegsproduktion zeigte, direkt auf die Produktion einwirken können, müssen sie bei der Ermittlung von Ein­nahmen und Ausgaben einer Volkswirtschaft berücksichtigt werden.

Keynes Idee setzte sich durch: Um die Berechnungen zu standardisieren, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein "System of Natio­nal Accounts" (SNA) entwickelt, mit dem Staaten ihre Bruttowertschöpfung, den "Ge­samt­wert der im Produktionsprozess erzeugten Waren und Dienstleistungen (Produktions­wert), abzüglich des Werts der Vorleistungen" ermitteln können, aus dem dann – mit gering­fügigen Korrekturen bezüglich Steuern und Subventionen – das Bruttoinlandsprodukt (BIP) abge­lei­tet wird, mit dem die Wirtschaftsleistung von Staaten berechnet und ver­glichen wird. Mit der Berechnung sind allerdings zahlreiche Probleme verbunden, die immer wieder zu Veränderungen im SNA und damit der Berechnung führen. So klagen etwa Femi­nistinnen seit langem darüber, dass nicht bezahlte Hausarbeit (und damit ein erheblicher Teil der von Frauen geleisteten Arbeit) nicht im BIP und damit bei der Berechnung des Wohl­stands berücksichtigt wird. Das geht auf die Nutzwerttheorie der neoklassischen Ökonomie zurück: nicht auf dem Markt gehandelte Hausarbeit hat für diese keinen "Wert". An anderer Stelle wird das Problem aber umgangen: so wird für von ihren Eigentümern selbst genutzte Häuser – für die sie ja keine Miete zahlen – eine "unterstellte Miete" angesetzt, damit man die wirtschaftliche Entwicklung in Ländern mit hohem und niedrigem Mieteranteil miteinander vergleichen kann. Anderswo verzichtet man auf internationale Vergleichbarkeit: Prostitution wird etwa nur in den Ländern – als positiv, da sie Einkommen schafft – berücksichtigt, wo sie legal ist; in anderen Ländern nicht. Die Beispiele zeigen, was zum Wohlstand laut BIP beiträgt und was nicht, ist einfach durch Festlegungen geregelt, die man verstehen kann oder auch nicht. Ob wirklich – jenseits der neoklassischen Theorie – Werte geschaffen werden oder nicht, spielt für das BIP keine Rolle. Für das Thema dieser Seiten zentral: Wenn Umweltverschmutzung kein Geld kostet, taucht sie (als sogenannte "Externalität") im BIP nicht auf. Wenn der Verursacher sie beseitigen muss, wird sie zu Kosten, verringert also das BIP; und wenn – etwa weil der Verursacher nicht zu ermitteln oder mittlerweile pleite ist – der Staat ein Unternehmen mit der Beseitigung beauftragt, steigert die Umweltver­schmutzung das BIP. Das ist der Grund, warum ökologische Ökonomen (und nicht nur die) das BIP für ungeeignet für die Messung des Wohlstands halten.

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Chemie, Elektrizität und Auto – Die zweite industrielle Revolution

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Übersicht Das Zeitalter der Industrie

© Jürgen Paeger 2006 – 2021

Leistung (1): Mittelschwer arbeitender Mensch: 100 Watt (201).

Leistung (2): James Watts größte Dampfmaschine (um 1800): 100.000 Watt (201).

Watt? Mehr zu den Einheiten der Energie siehe hier

Koks entsteht, wenn Kohle wie bei der Her­stellung von Holzkohle einem Verschwelungs­prozess unterzogen wird. Sie kann wie Holz­kohle als Reduktions­mittel bei der Stahl­herstellung eingesetzt werden.

Stahl wurde schon vor der Zeitenwende her­gestellt, indem die Ver­unreinigungen des Eisens mit Holzkohle herausgebrannt wur­den. Das Verfahren war jedoch aufwändig. Das Puddelverfahren be­schleunigte den Vor­gang, in dem das Roheisen gerührt (engl. puddled) wurde; außerdem konnte hierfür billige Steinkohle anstelle der teuren Holzkohle verwendet werden. 1855 verbes­serte Henry Bessemer das Verfahren mit der Bessemerbirne, in der Luft durch das flüssige Roheisen geblasen wurde – so wurden unerwünschte Bestand­teile komplett verbran­nt. Heute wird Stahl industriell meist im LD-Verfahren mit reinem Sauerstoff oder im Elektrostahlverfahren hergestellt, bei dem der Sauerstoff zur Oxidation aus zugegebenem Schrott stammt.

Dass der Handel zwischen Ländern für alle Beteiligten vorteil­haft sein, begründete der englische Ökonom David Ricardo mit der Theorie der “kompara­tiven Kostenvorteile”: Wenn England etwa Industrieware besser als andere herstellen kann, tut es gut daran, sich hierauf zu konzen­trieren und alle anderen Waren – wie Lebens­mittel – dort einzukau­fen, wo diese am güns­tigsten hergestellt wer­den.

Diese Theorie führte unter anderem dazu, dass die Kolonialmächte ihre Kolonien zwangen, Exportprodukte anzu­bauen (hier).

Siehe auch: Industrielle Revo­lution und Energie­verbrauch

Siehe auch: Eine kleine Geschichte des Geldes.