Das Zeitalter der Industrie
Die Bevölkerung der Erde
Mit den Erkenntnissen des
wissenschaftlich-technischen Zeitalters und der Anwendung der
Techniken der Industriellen Revolution auf die Landwirtschaft ging
eine zweite Wachstumsphase der Weltbevölkerung einher, die diese von
800 Millionen Menschen immer schneller anwachsen ließ – auf
mittlerweile über 7,8 Milliarden Menschen. Damit brauchte die
Menschheit auch einen immer größeren Anteil der biologischen
Produktion der Erde.

London wurde mit der
industriellen Revolution etwa um 1830 herum zur größten Stadt der
Erde (und blieb dies für fast 100 Jahre, bis 1925). Die industrielle
Revolution führte, beginnend in Großbritannien, zu einem
Bevölkerungszuwachs ohnegleichen. Foto: Umair Shuaib. aus wikipedia
(englische Ausgabe), abgerufen 31.1.2011. Lizenz: public domain.
Bevölkerungswachstum im
wissenschaftlich-technischen Zeitalter
Das >> schon
im Laufe des Agrarzeitalters immer schneller werdende Wachstum der
Bevölkerung erhielt mit dem Industriezeitalter einen weiteren
Schub:

Wachstum der Weltbevölkerung im
Industriezeitalter.
Eigene Abb. nach >> Clive
Ponting: A New Green History
of
the World, eigene Fortschreibung bis 2013.
Das lag an der Kombination von zwei Dingen: Erstens gingen die Entwicklungen in der
Landwirtschaft, die höhere Erträge erlaubten, im 19.
Jahrhundert weiter und mündeten schließlich in einer Mechanisierung
und Industrialisierung der Landwirtschaft; zweitens erlaubten
neue Verkehrsmittel, anfänglich vor allem die Eisenbahn und das
Dampfschiff, unterstützt von anderen neuen Techniken wie die 1806
erfundene Konservendose, in den industrialisierten Ländern den
Transport von Lebensmitteln durch ganz Europa und bald auch aus den
europäischen Überseekolonien. Damit wurde jetzt eine bis dahin
kritische Begrenzung der Bevölkerung in einer Region aufgehoben –
die Menge der Nahrung, die hier erzeugt werden konnte. Entsprechend
wuchs die Bevölkerung in den industrialisierten Ländern rasant – in
Großbritannien, wo die industrielle Revolution
begonnen hatte, etwa von 7,5 Millionen Menschen im Jahr 1750 auf 40
Millionen im Jahr 1910, obwohl schätzungsweise 20 Millionen Menschen
in dieser Zeit auswanderten; in Deutschland wuchs die Zahl der
Menschen von 22 Millionen im Jahr 1800 auf 54 Millionen im Jahr
1900. Die vielen
Menschen konnten sich auf dem Land ihren Lebensunterhalt nicht mehr
verdienen, und wanderten in die Städte ab, wo der Handel sichtbaren
Reichtum entstehen lassen hatte und die Menschen im Laufe des 19.
Jahrhunderts zunehmend hoffen konnen, ihre Arbeitskraft als
Fabrikarbeiter verkaufen zu können. Selbst in Amerika und Kanada
waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts das meiste Land verteilt, auch
hier mussten die Einwanderer ihr Glück zunehmend in den Städten
versuchen. Das Ergebnis war eine zunehmende Verstädterung der
Industrieländer; in England lebten irgendwann zwischen 1850 und 1870
erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land, im Jahr 1900
bereits etwa zwei Drittel der Bevölkerung (in Deutschland waren es
knapp die Hälfte der Bevölkerung, in den USA ein gutes Drittel).
Hier begann ein Trend, der das 20. Jahrhundert prägen sollte: die
Verstädterung der Menschheit.
Der
Kampf gegen die Infektionskrankheiten I
Die Lebensbedingungen in den frühen Industriestädten waren
schlecht: Sie waren überbevölkert und ungesund, es stank erbärmlich
(in London etwa gab es Mitte des 19. Jahrhunderts über 200.000
Sickergruben). Davon profitierte insbesondere die in dicht
besiedelten Städten schon lange verbreitete Tuberkulose.
Im 19. Jahrhundert wurde sie zur häufigsten Todesursache in den
Städten Europas und Amerikas. Aber auch die Pocken und Masern
forderten in immer wieder auftretenden Epidemien mitunter tausende
Menschenleben. Insbesondere unter der ärmeren Bevölkerung war die
Sterblichkeitsrate hoch, aber offensichtlich gab es lange keinen
Handlungsdruck, die Zustände zu ändern – es strömten ja mehr als
genug Arbeitskräfte vom Land nach; und wer genug Geld hatte, entfloh
den übelriechenden und ungesunden Städten und siedelte sich entlang
der neu entstehenden Eisenbahnstrecken in den neu entstehenden
Vororte an. (Später, mit der Entwicklung elektrischer Straßen- und
Untergrundbahnen ab den 1890er Jahren, beschleunigte sich diese
Entwicklung noch; die Städte wuchsen mit Nachbarstädten zusammen,
so “schluckte” Berlin Charlottenburg und Spandau). Aber manchmal
zeigte sich doch das Erbe der Aufklärung. Im 18. Jahrhundert war es
ein puritanischer Geistlicher, Cotton Mather (der bei den
Hexenprozessen von Salem noch eine unrühmliche Rolle gespielt hatte,
weswegen ihm viel nicht trauten), der in Boston auf seinen aus
Westafrika stammenden Sklaven Onemsimus hörte – dieser zeigte ihm
alte Narben und berichtete, dass in Westafrika Flüssigkeit aus den
Pockenbläschen mit kleinen Schnitten in die Haut gesunder Menschen
eingebracht werde, diese dann nur eine milde Form der Krankheit
entwickelten und anschließend vor den Pocken geschützt seinen.
Auch die Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel
berichtete aus dem Osmanischen Reich, dass ihre Tochter dort mit
dieser Methode behandelt worden sein, wovon Mather (der seine Frau
und 13 seiner 15 Kinder an Epidemien hatte sterben sehen) aus
Wissenschaftsjournalen erfuhr (440).
Als 1721 die Pocken in Boston ausbrachen, schlug
er vor, diesem Beispiel zu folgen. Die meisten Ärzte waren entsetzt,
aber der Arzt Zabdiel Bolyston begann die Methode zunächst an zwei
Sklaven und seinem Sohn zu erproben. Als die Epidemie vorbei war,
waren 6.000 Menschen an Pocken erkrankt (mehr als jeder Zweite in
Boston), 844 von ihnen (knapp 15 Prozent) gestorben. Bei den von
Bolyston behandelten Menschen betrug die Todesrate nur 2 Prozent.
Das war überzeugend, die "Variolation" wurde zum ersten
Beispiel, dass die Menschen Epidemien nicht hilflos hinnehmen
mussten. Als 1792 in Boston erneut die Pocken ausbrachen, wurden
etwa 9.200 Menschen so behandelt, nur noch 232 steckten sich mit
den Pocken an. Auch wenn es Widerstand gegen die Variolation
gab (in religiösen Kreisen wurde sie als Einmischung in das
Schicksal verstanden), setzte sie sich in Nordamerika und Europa
durch. Aber auch die meist milde Form der Pocken, die die
Variolation hervorrief, war unangenehm, und auch sie konnte tödlich
enden. So ging der englische Landarzt Edward Jenner
den Gerüchten nach, dass an Kuhpocken erkrankte Mägde nur selten und
dann nur schwach an Pocken erkrankten. 1796 nutzte der die
Flüssigkeit aus den Pockenbläschen einer an Kuhpocken erkrankten
Magd für eine "Vakzination" (von lat. Vacca, Kuh) und
injizierte sie einem achtjährigen Jungen. Acht Wochen später
injizierter er ihm Pockenviren – der Junge blieb gesund. Damit hatte
Jenner eine wirksame und wesentlich ungefährlichere Impfung
gegen die Pocken gefunden. Auch hier gab es Impfgegner, die
fürchteten, geimpfte Menschen könnten kuhähnliche Eigenschaften
entwickeln und ihnen könnten sogar Hörner wachsen. Aber schon drei
Jahre nach Jenners Entdeckung waren in England 100.000 Menschen
geimpft, im den nächsten beiden Jahrzehnten waren es je zwei
Millionen Menschen in Russland und Frankreich; der spanische König
Karl IV. ordnete eine Expedition an, um den Impfstoff im gesamten
spanischen Kolonialreich zu verteilen (darunter auch in Amerika, wo
die Spanier die Pocken erst eingeschleppt hatten). Als die Pocken
aber weniger häufig auftraten, ließ der Impfeifer nach; außerdem
stellte sich heraus, dass der Schutz nicht lebenslang anhielt. So
kam es in Europa – begünstigt durch den deutsch-französischen Krieg
– 1870-75 wieder zu einer Pocken-Pandemie.
In Deutschland starben in den "Impfregionen" deutlich weniger
Menschen – 1874 wurde daher eine Impfpflicht für Neugeborene
eingeführt.
Suche nach den Ursachen
Warum die Pockenimpfung half, wusste man nicht, und gegen andere
Krankheiten gab es keine vergleichbaren Mittel. Zwar hatten frühe
Mikroskope bereits im 17. Jahrhundert zur Entdeckung bisher
unbekannter Kleinlebewesen entdeckt, aber mit Krankheiten wurden sie
nicht in Verbindung gebracht. Im 18. Jahrhundert hatte jedoch der
britische Militärarzt John Pringle schlechte hygienische Zustände
als Ursache für die hohe Sterberate durch Seuchen unter britischen
Soldaten und insbesondere in den Feldlazaretten erkannt; in seinen
1752 veröffentlichten "Observations on the Diseases of the Army"
verbreitete er seine "Schmutztheorie" [442].
Bald erreichte diese auch die Sozialreformer, die begonnen hatten,
sich ernsthaft mit den Ursachen der Zustände in den
Arbeitervierteln zu befassen und versuchten, die Lage der Armen zu
verbessern. 1817 brach in Asien die dort als endemische Krankheit
lange bekannte Cholera aus [444].
Der Ausbruch war weit heftiger als üblich, in Indien tötete er
Millionen Menschen vor allem auf dem Land – und die Cholera breitete
sich erstmals über die ganze Welt aus. 1831 erreichte die Pandemie
Österreich, Deutschland – und London. Das war ein Schock, galt doch
die Abwesenheit solcher Krankheiten im Westen als ein Beleg für
Überlegenheit der westlichen Zivilisation, die solche Krankheiten
nur aus den Berichten etwa von Ärzten der East India Company
bekannt. Versuche, die Ausbreitung der Cholera etwa mit (von
Soldaten bewachten) "Sanitärkordons" zu verhindern, scheiterten
aber. Besonders viele Opfer fand die "neue" Krankheit in den
Armenvierteln [445].
In Paris stellte der Arzt Louis-René Villermé in den 1820er Jahren
fest, dass die schlechte Gesundheit der Menschen in den
Armenvierteln mit ihrem Beruf und ihrem Einkommen zusammenhängen
(wohlhabende Handwerker waren auch gesünder); 1842 veröffentlichte
in London der Sozialreformer Edwin Chadwick einen Bericht,
demzufolge die hygienischen Bedingungen in London Ursache der hohen
Sterblichkeitsrate unter den Armen sei, und forderte – vor allem zur
Vermeidung der Cholera – eine Wasserversorgung in Verbindung mit
einer Abwasser- und Abfallentsorgung in den Städten. Als die Cholera
dann 1854 in London 14.000 Tote forderte, sprang ihm der Londoner
Arzt John Snow bei. Snow hatte 1849 angesichts einer vorherigen
Epidemie mit seinem Kollegen William Budd einen Aufsatz
veröffentlicht, in dem sie Mikroorganismen im Wasser für einen
Choleraausbruch verantwortlich machten, und konnte jetzt zeigen,
dass die Todesfälle auf eine einzige Wasserpumpe in der Broad Street
zurückgingen. Er setzte die Pumpe außer Betrieb, und die Epidemie
endete. Der Arzt Arthur Hill Hassal konnte im Wasser und im Stuhl
von Cholerapatienten auch den Choleraerreger nachweisen, seine
Theorie wurde aber – wie ungefähr zur gleichen Zeit auch Semmelweis'
Theorie der Leichengifte – nicht anerkannt (als Ursache der
Krankheiten galt, der alten "Miasmentheorie" oder der neuen
"Schmutztheorie" folgend, der Schmutz in den Armenvierteln).
Dennoch forderte Snow wie Chadwick eine verbesserte Kanalisation in
der Stadt, da Cholera eindeutig über Wasser übertragen wurde. 1858
kam es in einem ungewöhnlich heißen Sommer zu einem ungewöhnlich
heftigen Gestank (als "Great Stink" bekannt geworden),
aufgrund dessen das britische Unterhaus Sitzungen verschieben musste
sogar einen Umzug erwog. Dieser Sommer führte dazu, dass das
Kanalisationssystem Londons grundlegend erneuert wurde; eines der
größten städtebaulichen Projekte des 19. Jahrhunderts. Auch andere
Städte hatten begonnen, mit gewaltigen Sanierungsprogrammen gegen
das Elend in ihren Innenstädten zu kämpfen – dazu gehörte (wenn
auch weniger sozialreformerisch motiviert) etwa zur gleichen Zeit
Baron Haussmanns Sanierung der Pariser Innenstadt.
Nicht nur Infektionskrankheiten fanden in den dicht
besiedelten und unhygienischen Städten der frühen Industrialisierung
einen idealen Nährboden, die Industrialisierung brachte auch andere
neue Krankheiten mit sich: Ein Beispiel war die zeitweise als
“englische Krankheit” bekannte Rachitis, eine
durch Vitamin-D-Mangel verursachte Wachstumsstörung der Knochen.
Vitamin D wird durch Sonnenlicht gebildet, und der Kohlenruß der
frühen Industrialisierung verdunkelte die Luft in den Städten
derart, dass die Vitamin-D-Bildung litt.
Der Weg zur
"Keimtheorie"
Die Ursachen der Seuchen sollten in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhundert aufgeklärt werden, wichtige Beiträge hierzu leisteten
der französische Chemiker Louis Pasteur und der deutsche
Arzt Robert Koch. Pasteur beschäftigt sich ab 1854 im Auftrag eines
lokalen Herstellers mit der Frage, warum Alkohol aus Rübenzucker
manchmal einen unangenehmen Beigeschmack hatte. Er fand den
Schuldigen – ein Bakterium – schnell [446],
beschäftigte sich dann aber noch tiefer gehend mit dem
Gärungsprozess und erkannte, dass dieser kein chemischer, sondern
ein biologischer war: Hefe wandelte Nährstoffe in Alkohol um. Wenn
solche Mikroorganismen aber eine Gärung verursachen konnte, dann,
so vermutete er, könnten sie auch Krankheiten verursachen. Dass dies
so war, zeigte 1876 Robert Koch, der den (1863 von dem
französischen Arzt Casimir Davaine entdeckten [448])
Erreger der Tierkrankheit Milzbrand außerhalb des Organismus
kultivieren konnte und zeigte, dass dieser Sporen bilden konnte, die
im Boden überdauern und Tiere infizieren konnten. Damit wurde
nachvollziehbar, warum Milzbrand scheinbar aus dem Nichts auftreten
konnte. Damit löste die "Keimtheorie" (im Laufe der Zeit) die
Schmutztheorie ab. 1882 entdeckte Koch auch den Erreger der
Tuberkulose (das Bakterium Mycobacterium tuberculosis), 1884
auf einer Expedition nach Indien den der Cholera, das Bakterium Vibrio
colerae (wobei er nicht der erste war, siehe oben, aber Koch
erhielt für die Entdeckung des Tuberkulose- und des Cholera-Erregers
1901 den Nobelpreis. Die Entdeckung dieser Erreger war ein
Riesenfortschritt, denn nun mussten neue Behandlungen und
Medikamente nicht mehr am Menschen, sondern konnten am Erreger
selbst ausprobiert werden.) Koch zeigte auch, dass der
Cholera-Erreger sich durch die Ausscheidungen Infizierter und
verseuchtes Wasser übertrug (die Londoner Sozialreformer hatten also
recht gehabt). Unterdessen hatte Louis Pasteur 1880, dass man auch
gegen andere Krankheiten ähnlich Jenners Kuhpocken-Vaccination
impfen konnte (er impfte mit abgeschwächten Erregern gegen die
Geflügelcholera), 1881 entwickelte er einen Impfstoff gegen
Milzbrand; und diesen Impfstoff produzierte er in großen Mengen. Er
experimentierte auch mit Impfungen gegen die Tollwut. (Pasteurs und
Kochs Arbeiten bauten aufeinander auf, beide pflegten aber seit 1882
eine heftige persönliche Abneigung, angefeuert von der Presse, für
die sie Symbole der deutsch-französischen Erbfeindschaft waren.)
Die Choleraepidemie in Hamburg 1892
Obwohl der Erreger der Cholera und auch die nötigen
Hygienemaßnahmen im Jahr 1892 im deutschen Reich eigentlich bekannt
waren, kam es im Sommer in Hamburg zu einem erneuten Ausbruch. Nach
den ersten Toten zögerte die Stadt, in der viele Ärzte – unter dem
Einfluss des bayerischen Chemikers Max von Pettenkofer, der Kochs
Erkenntnisse nicht anerkannte – an Kochs "Keimtheorie" zweifelten,
die notwendigen Quarantänemaßnahmen zu ergreifen, da dieses den
Handelsverkehr erheblich beeinträchtigt hätte. Als sie dann
ergriffen wurden, war es zu spät: innerhalb von sechs Wochen starben
8.600 Menschen an der Cholera. Eingeschleppt wurde die Cholera
vermutlich von russischen Auswanderungen, die im Amerikakai auf ihr
Schiff nach Amerika warteten. Dass hieraus eine Epidemie wurde, lag
zum einen daran, dass durch Ebbe und Flut die Erreger flussaufwärts
bis zur Entnahmestelle der zentralen Wasserversorgung gelangt waren
– und Hamburg aus Kostengründen und der Argumentation Pettenkofers
folgend, wonach eine Wasserversorgung, aber keine Reinigung des
Wassers nötig sei, die Sandfiltration, anderswo längst hygienischer
Standard, herausgezögert hatte. Im benachbarten Altona, wo das
Trinkwasser gereinigt wurde, trat die Cholera nicht auf (Pettenkofer
weigerte sich, dies als Hinweis auf Erreger im Wasser anzuerkennen,
und trank ein Glas ungereinigtes Wasser. Er bekam Durchfall,
erklärte aber, dieser habe nichts mit der Cholera zu tun. In der
Wissenschaft war er damit zunehmend isoliert). Besonders hoch war
die Zahl der Todesopfer in Arbeitervierteln wie dem Gängeviertel.
Jetzt wurde endlich gehandelt: im Mai 1893 ging die Hamburger
Sandfiltrieranlage in Betrieb, die Kanalisation wurde verbessert und
das Gängeviertel saniert [450].
Und in den 1890er Jahren kehrte auch die Pest zurück. Die
dritte Pandemie begann 1890 im Süden Chinas und breitete sich
entlang des Perlflusses aus, über Guangdong und Guangzhou erreichte
sie Hongkong – und verbreitete sich von dort aus dank der neuen
Dampfschiffe schnell in der ganzen Welt. Zuerst traf sie die
Hafenstädte – Kapstadt, Sydney, San Francisco, Rio de Janeiro und
Buenos Aires. Aber die Pest traf auf eine Welt, die aus der zweiten
Epidemie und der Cholera gelernt hatte. Seit 1851 versuchte die Welt
auf Internationalen Sanitärkonferenzen, den Kampf gegen Seuchen zu
koordinieren (auch, um den Einsatz von den Handel einschränkenden
Quarantänen zu minimieren); 1894 gelang es unabhängig voneinander
dem schweizerisch-französischen Arzt Alexander Yersin, einem Schüler
Pasteurs und dem japanischen Bakteriologen Shibasaburo Kitasato,
einem Schüler Robert Kochs, den Erreger der Pest, ein (später nach
Yersin Yersinia pestis genanntes) Bakterium, nachzuweisen.
1898 zeigte der französische Arzt Paul-Louis Simond, ebenfalls vom
Institut Pasteur, dass die Beulenpest von Flöhen, die auf Hausratten
leben, übertragen wurde (nur die seltenere Lungenpest war von Mensch
zu Mensch ansteckend). Mit diesem Wissen gelang es, die
Sterblichkeitsrate der dritten Pestepidemie deutlich unter der der
zweiten zu halten – mit einer Ausnahme: in Indien, wo die Pest 1896
in Bombay angekommen war, starben fast 12 Millionen Menschen. Die
britische Kolonialregierung war zu schwach, um die notwendigen
Maßnahmen durchzusetzen, die zudem von der Bevölkerung als koloniale
Zwangsmaßnahmen verstanden und daher abgelehnt wurden. Später
schwenkte die Kolonialregierung um und versuchte es mit Kooperation,
das konnte aber nicht verhindern, dass die Inder gemerkt hatten,
dass sie auch nicht allmächtig war. (Ebenso wie die westliche
Medizin, die gegen die Pest auch nicht helfen konnte: dies führte zu
einer Rückbesinnung auf die traditionelle Unani- und
Ayurveda-Medizin.) Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die
dritte Pandemie weitgehend überstanden, die Pest war aber nicht
besiegt: in manchen Regionen in Afrika und Asien wurde die Krankheit
endemisch, immer wieder kommt es auch zu Epidemien (1994 im Indien,
seit 2008 in Madagaskar). Wenn sie schnell entdeckt wird, ist die
Krankheit aber heute gut heilbar.
Der demografische Übergang
Diese Fortschritte trugen zu einer Entwicklung bei, die die globale
Wachstumskurve der Weltbevölkerung nicht zeigt: in den zuerst
schnell wachsenden Ländern ging das Wachstum irgendwann wieder
zurück. Dies wird mit dem Modell des “demografischen
Übergangs” erklärt: mit dem Beginn der wirtschaftlichen
Entwicklung nimmt die Bevölkerung rasch zu; nach einer –
unterschiedlich langen – Wachstumsphase geht das
Bevölkerungswachstum aber zurück und die Bevölkerung
stabilisiert sich schließlich auf einem höheren Niveau.

Der demografische Übergang:
Auf eine Phase mit hoher Geburts- und hoher Sterberate (Phase 1)
folgt bei besserer Ernährung und Hygiene eine sinkende Sterberate;
die Geburtenrate bleibt aber
zunächst gleich (Phase 2). Dadurch steigt die Bevölkerungszahl. Mit
einiger Verzögerung sinkt
auch die Geburtsrate (Phase 3), die Bevölkerung wächst aber zunächst
weiter, da als Folge der
Phase 2 viele junge Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter sind.
Erst mit Verzögerung endet
auch der Anstieg der Bevölkerungszahl, die gleich bleibt oder, falls
die Geburtsrate unter die
Sterberate sinkt, sogar zurückgehen kann.
So war es schon in Großbritannien: nach dem
Anstieg der Bevölkerung auf 40 Millionen im Jahr 1910 ging das
Bevölkerungswachstum zurück. Die ansteigende Bevölkerung geht in der
Regel auf eine zurückgehende Sterberate zurück (in
Großbritannien sank zum Beispiel der Anteil der Totgeburten an allen
Niederkünften von 14 Prozent im Jahr 1900 auf 6,3 Prozent im Jahr
1930 [und 0,58 Prozent im Jahr 1997]), der aber zeitverzögert
eine zurückgehende Geburtenrate folgt. Die Gründe
für die zurückgehende Sterberate (Phase 2) haben wir oben gesehen:
bessere Nahrungsmittelversorgung dank Fortschritten in der
Landwirtschaft und verbesserten Transporten sowie medizinische
Fortschritte und bessere Gesundheitsvorsorge durch Impfungen gegen
einige wichtige Infektionskrankheiten und bessere hygienische
Bedingungen.

Den einzelnen Phasen des
Bevölkerungswachstums entspricht eine charakteristische Bevölkerungspyramide:
In Ländern der Phase 1 leben sehr viele junge Leute; bei
zurückgehender Sterberate (Phase 2) nimmt der Anteil der älteren
Jahrgänge zu. Geht die Geburtenrate (Phase 3) zurück, wird der Fuß
der Pyramide schmaler, und eine niedrige Geburtenrate führt
schließlich zu einer “alternden Gesellschaft”. Aus dieser erwachsen
neue Herausforderungen, etwa die Finanzierung von Renten durch eine
sinkende Zahl junger, erwerbstätiger Menschen. Eigene Abbildungen,
inspiriert von der aus National Geographic January 2011 “Population
7 Billion”, Seite 44.
Wann und warum die Geburtenrate beginnt zu
sinken, ist weniger eindeutig bekannt. Historisch ist die Zeitspanne
vom Sinken der Sterberate zu Sinken der Geburtenrate in
verschiedenen Ländern unterschiedlich lang; wichtigste Gründe
scheinen ein gewisser Wohlstand und das Bildungsniveau (vor allem
der Frauen) zu sein, aber auch die Kenntnis über und der Zugang zu
Verhütungsmethoden und -mitteln zu sein. In Phase 3 befinden sich
heute Länder wie Indien oder Bangladesch, wo die Geburtenrate
zurückgeht, die Bevölkerung aufgrund des hohen Anteils an jungen
Leuten aber noch schnell wächst; in Phase 4 die europäischen
Industriestaaten, aber auch bevölkerungsreiche Länder wie Brasilien,
Japan und China. (Die USA zeigen Merkmale der Phase 3 und Phase 4:
Durch viele junge Einwanderer wächst die Bevölkerung noch, aber die
Bevölkerung wird zugleich älter.) Da im Industriezeitalter alle
Länder die Phasen 2 und 3 mit schnellem Bevölkerungswachstum
durchmachten, kam es insgesamt zu einem (mitunter als
"Bevölkerungsexplosion" bezeichneten schnellen
Bevölkerungswachstum, das sich am eindrucksvollsten an
der Zeit ablesen lässt, in der die Bevölkerung um eine Milliarde
Menschen wuchs. Eine Milliarde Menschen lebten erstmals um das Jahr
1820 herum auf der Welt, diese Zahl wurde also nach Erfindung der
Landwirtschaft in gut 10.000 Jahren erreicht. Die nächste Milliarde
Menschen dauerte nur noch gut 100 Jahre: Um 1925 lebten zwei
Milliarden Menschen auf der Welt. Drei Milliarden waren es bereits
35 Jahre später (1960), die nächste Milliarde dauerte 15 Jahre (1975
– 4 Milliarden Menschen), und die beiden folgenden Milliarden
jeweils etwa 12 Jahre (nach UN-Berechnungen lebten genau am 12.
Oktober 1999 sechs Milliarden auf der Erde. Sieben Milliarden
Menschen wurden im Jahr 2011 erreicht, aktuell leben über 7,8
Milliarden Menschen auf der Erde.
Wie viele Menschen leben jetzt
gerade auf der Erde?
Die Antwort finden Sie bei der Stiftung Weltbevölkerung >> hier.
Der Kampf gegen die Infektionskrankheiten II
In Europa, Nordamerika und anderen entwickelten Ländern verloren
die Pocken mit der Anwendung der Schutzimpfung schnell
ihren Schrecken. Außerhalb der Industrieländer gelang dies erst,
nachdem in den 1940er Jahren ein gefriergetrockeneter Impfstoff
entwickelt wurde, der – anders als frühere Impfstoffe – auch gut in
die Tropen gebracht werden konnte und nachdem die
Weltgesundheitsorganisation 1967 ein Programm zur Ausrottung der
Pocken startete (das Programm hatte schon 1953 gestartet werden
sollen, wurde aber von den Industrieländern immer wieder – aus
Kostengründen [480]
– abgelehnt). Damit wurden die Pocken zur ersten und bisher einzigen
Infektionskrankheit, die ausgerottet werden konnte. Der letzte
Pockenfall wurde 1977 aus Somalia gemeldet; 1980 wurden die Pocken
als ausgerottet erklärt. (Pockenviren werden offiziell in zwei
Seuchenzentren in den USA und Russland aufbewahrt, um ggf.
Ausgangsmaterial für die Herstellung von Impfstoff zu haben.
Befürchtet wird, dass darüber hinaus einige Länder geheime Vorräte
zu militärischen Zwecken lagern könnten.)
Die Entdeckung der Viren
Der Verursacher der Pocken konnte erst entdeckt
werden, nachdem Ende des 19. Jahrhunderts die Viren
entdeckt wurden: 1882 entdeckte der Leiter der Versuchsstation der
landwirtschaftlichen Hochschule Wageningen, Adolf Mayer, dass eine
neue Krankheit, die den Tabakanbau in den Niederlanden schädigte,
durch gefilterten Pflanzensaft, der weder Bakterien noch Pilze
enthielt, auf andere Tabakpflanzen übertragen werden konnte. 1892
entdeckte der russische Biologe Dmitri Iwanowski unabhängig von
Mayer (die Krankheit hatte auch den russischen Tabakanbau erreicht),
dass der auslösende Stoff einen bakteriendichten Filter durchqueren
konnte, also deutlich kleiner als ein Bakterium sein musste.
(Iwanowski glaubte wie Mayer, dass es ein von Bakterien produziertes
Gift sein müsse.) 1898 zeigte der niederländische Mikrobiologe
Martinus Beijerinck aber, dass der Stoff sich in lebenden
Pflanzenzellen vermehren konnte, und nannte ihn "Virus". Die
deutschen Bakteriologen Friedrich Loeffler und Paul Frosch
entdeckten mit Beijerincks Methode im gleichen Jahr, dass auch der
Auslöser der Maul- und Klauenseuche, die Rinder und Schweine
befällt, ein solcher Virus war. 1901 zeigte der amerikanische
Militärarzt, dass auch das in den Tropen und Subtropen Südamerika
und Afrikas verbreitete Gelbfieber auf einen Virus zurückgeht. Und –
wie sich bald zeigte – auch viele andere Infektionskrankheiten,
darunter die Pocken. Erst 1939, nach der Erfindung des
Elektronenmikroskops, konnte man aber klären, was ein >> Virus ist: in Proteine
eingewickeltes genetisches Material, das Zellen von Lebewesen
kapern und dazu bringen kann, den Virus zu vermehren.
Die Cholera löste in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in Europa immer noch Angst aus: vor allem die
schnelleren Verkehrsverbindungen nach Asien mittels Eisenbahn und
Suezkanal ließen viele fürchten, dass sie im Falle eines Ausbruchs
schneller aus Asien nach Europa gelangen könnte. Aber Anfang des 20.
Jahrhunderts, nachdem lange nichts passiert war (1911 gab es noch
Ausbrüche in Venedig und Neapel), verloren die Industrieländer das
Interesse an der Cholera; sie war zu einer endemischen Krankheit
armer Entwicklungsländer geworden, die Tote vor allem in Afrika
forderte. 1961 tauchte aber ein neuer Subtyp des Cholera-Erregers
("El Tor", nach dem Ort in Ägypten, wo er erstmals entdeckt wurde),
der seither wieder verbreitet zu größeren Epidemien führt: 1991 in
Südamerika mit 12.000 Toten, 1994 während des Ruanda-Krieges mit
40.000 Toten, 2008/2009 im südlichen Afrika mit fast 5.000 Toten,
seit 2010 in Haiti mit fast 10.000 Toten, seit 2016 im Jemen mit
bisher etwa 3.500 Toten. Die Cholera ist nach wie vor ein Zeichen
sozialer Ungleichheit (wenn sie nicht auf Kriege zurückgeht): sie
tritt nur dort auf, wo das Trinkwasser mit menschlichen Fäkalien
verunreinigt ist; und es sterben nur dort Menschen an der Cholera,
wo ihnen die vorhandenen (und billigen) Heilmittel nicht zur
Verfügung stehen.
Der Kampf gegen
krankheitserregende Bakterien wurde durch die Entdeckung des
schottischen Arztes und Mikrobiologen Alexander Fleming, dass
Schimmelpilze der Gattung Penicillium Bakterienwachstum
hemmen können, und des australischen Pathologen Howard Florey sowie
des deutschstämmigen, vor den Nazis nach England geflohenen
Mikrobiologen Ernst Chain, deren Arbeiten an der Universität Oxford
den Grundstein für die Massenproduktion von Penicillin legten,
entscheiden vorangebracht: 1944 begann die industrielle Produktion
dieses ersten Antibiotikums (gegen Bakterien wirkenden Mittels).
(Fleming, Florey und Chain bekamen 1945 den Medizin-Nobelpreis.) Das
Beispiel der Cholera zeigt aber, dass medizinische Fortschritte
(wozu im Falle der Cholera auch die Entwicklung einer Trinklösung in
den 1960er gehörte, mit der beim Durchfall verloren gegangene
Flüssigkeit, Zucker und Salze ersetzt werden können, die für die
Behandlung noch wichtiger sind ist als Antibiotika) Krankheiten
nicht alleine bekämpfen können. Sie nützen nämlich nichts, wenn sie
die bedürftigen Menschen nicht erreichen, sie für diese nicht
bezahlbar sind oder wenn sie sich immer wieder anstecken: auch
(menschen-)lebensfeindliche soziale Umstände müssen abgestellt
werden, um den Infektionskrankheiten ihre Grundlage zu entziehen.
Ein Beispiel dafür ist auch die Tuberkulose. In Europa und
Nordamerika begann die Sterblichkeit bereits Mitte des 19.
Jahrhunderts, also lange vor der Entwicklung der Antibiotika,
zurückzugehen. Dies lag nicht an den Heilmethoden (die
Tuberkulose-Sanatorien erwiesen sich als weitgehend unwirksam),
sondern vor allen an den einsetzenden städtebaulichen und
hygienischen Maßnahmen; mit Kochs "Keimtheorie" verloren zudem die
"Miasmen-" und die "Schmutztheorie" an Bedeutung, deren Anhänger
nicht an die Notwendigkeit einer Isolation der Erkrankten geglaubt
hatten (wenigstens zu dieser trugen aber die Sanatorien bei), in New
York wurden z.B. eigene Tuberkulosehospitäler eingerichtet. Die
soziale Komponente blieb aber erhalten, weiterhin starben mehr
Menschen in Armenvierteln als in den reichen Stadtvierteln. Außerdem
starben deutlich mehr Schwarze und Indianer an der Tuberkulose als
Weiße. Vor allem aber trat die Krankheit zunehmend in den wachsenden
Städten Asiens und Afrikas auf, in Kenia war sie vor dem Zweiten
Weltkrieg zur wichtigsten Todesursache geworden. 1943 entdeckte der
russisch-amerikanische Mikrobiologe Selman Waksman mit Streptomycin
ein Antibiotikum, das gegen Tuberkulose wirkte. Nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde dann im Geist der Nachkriegszeit (Gründung der
Weltgesundheitsorganisation WHO und von UNICEF) und im Kampf um die
Herzen der Menschen im Kalten Krieg der Kampf gegen die weltweite
Tuberkulose aufgenommen. Neben Streptomycin richtete sich die
Hoffnung auch auf die bereits 1921 von den Franzosen Albert Calmette
und Camille Guérin entwickelte Tuberkulose-Schutzimpfung BCG (deren
Einführung sich verzögert hatte, nachdem 1930 in Lübeck von 256
geimpften Kindern 77 an Tuberkulose starben – der Impfstoff war im
Krankenhauslabor mit infektiöser Tuberkulose verunreinigt worden).
Allerdings erwies sich der Impfstoff BCG in den Subtropen und Tropen
als deutlich weniger wirksam, und gegen die Antibiotika (kurz nach
Streptomycin kam mit Paraaminosalicylsäure ein weiteres hinzu)
entwickelten sich resistente Stämme. (Da die Tuberkulose-Bakterien
sich langsam teilen, müssen die Antibiotika lange eingenommen werden
– dieses in jeder Umgebung sicherzustellen und zu finanzieren,
überfordert aber viele Gesundheitssysteme.) Neue Antibiotika kamen
hinzu, aber auch diese wurden nicht immer und überall richtig
angewendet, und heute gibt es multiresistente Bakterienstämme – im
Grunde die Fortsetzung des Problems der resistenten Stämme –, die
die Hoffnung auf die medikamentöse Ausrottung der Krankheit
schrumpfen lassen.
Ganz im Gegenteil: im Gefolge der Immunschwächekrankheit AIDS
nimmt bei den Betroffen Tuberkulose als Folgekrankheit deutlich zu.
Tuberkulose ist heute weltweit die tödlichste Infektionskrankheit,
an der jährlich etwa 1,5 Millionen Menschen sterben, vor allem in
Indien, Indonesien, China, Philippinen, Bangladesch, Nigeria,
Pakistan und Südafrika. (Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt
nicht auf – bis 2035 soll die Zahl der Todesfälle um 95 Prozent
sinken [>> WHO:
Tuberculosis, englischsprachig]).
Erfolgreicher war der Kampf gegen die Kinderlähmung. Diese
Virenerkrankung, die vor allem Kinder befällt und zu bleibenden
Lähmungen, vor allem der Beine und Arme, führen kann (und bei
Lähmung der Atemmuskulatur auch tödlich sein kann), trat ab etwa
1880 vor allem in Europa und den USA epidemisch auf. Sie lähmte
alleine in den USA in den 1950er Jahren 15.000 Menschen im Jahr (zu
den bekanntesten Opfern der Kinderlähmung gehörte Franklin D.
Roosevelt, der 32. Präsident der USA). Seit 1955 gibt es einen von
dem amerikanischen Kinderarzt Jonas Salk entwickelten Impfstoff,
seit 1961 eine von dem US-Virologen Albert Sabin entwickelte
Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung, mit der die Zahl der Fälle
von Kinderlähmung sehr stark reduziert (auf etwa 1.000 Fälle im
Jahr) werden konnte.
Masern, ebenfalls eine durch Viren verursachte Krankheit,
blieben bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts problematisch, sie wurden
dann durch bessere Ernährung und bessere Wohnbedingungen
zurückgedrängt. Eine Schutzimpfung ist seit 1963 erhältlich; in
Entwicklungsländern gehören sie aber immer noch zu den häufigsten
Infektionskrankheiten mit hoher Todesrate. Aufgrund einer
zunehmenden Impfmüdigkeit in den reichen Ländern nehmen die
Masernfälle auch hier wieder zu, was für die WHO eine Bedrohung
der globalen Gesundheit darstellt.
Den Erreger der Malaria (einzellige Parasiten der Gattung
Plasmodium) entdeckte 1880 der im algerischen Constantine
arbeitende französische Arzt und Bakteriologe Alphonse Laveran; dass
diese von Steckmücken der Gattung Anopheles auf den Menschen
übertragen werden, 1897 der englische Tropenmediziner Ronald Ross
(der hierfür 1902 den Medizin-Nobelpreis erhielt). Ab 1930 wurden
unter Mussolini die Pontinischen Sümpfe bei Rom trockengelegt, unter
anderem, um die Malaria zu bekämpfen; ähnliche Programme wurden von
der Tennessee Valley Authority nach der Weltwirtschaftskrise zur
Ausrottung der Malaria im Süden der USA durchgeführt. 1934 fand der
italienisch-deutsche Chemiker Hans Andersag mit Chloroquin einen
Wirkstoff, der deutlich wirksamer als das zuvor zur Behandlung der
Malaria verwendete Chinin war, und 1939 entdeckte der Schweizer
Chemiker Paul Hermann Müller, dass das bereits 1874 erstmals
hergestellte DDT Insekten (wie die Anopheles-Mücke) tötete.
Damit gab es zwei neue, wirksame Waffen gegen Malaria, und nach dem
Zweiten Weltkrieg sollte ähnlich wie die Pocken und die Tuberkulose
auch die Malaria ausgerottet werden. Das 1955 gestartete Malaria
Eradication Program der Weltgesundheitsorganisation WHO war
aber nur in den Randgebieten erfolgreich (im Mittelmeerraum konnte
die Malaria ausgerottet werden), in den Hauptmalariagebieten gelang
dies nicht. Das lag vor allem daran, dass der Zugang zu Medikamenten
und eine ausreichend lange ärztliche Behandlung (nicht nur, um die
Menschen zu retten, sondern auch, um die Anzahl der Wirte für den
Parasiten zu verringern) aufgrund der sozialen und politischen Lage
in vielen Ländern nicht möglich war. Dies führte auch dazu, dass
vermehrt Chloroquin-Resistenzen auftraten. In den 1960er Jahren
wurden dann zunehmend die Gesundheitsgefahren des DDT, das zur
Mückenbekämpfung auch in Innenräumen eingesetzt wurde, erkannt. 1972
wurde das Programm als gescheitert eingestellt. Auch die aktuellen
Programme – etwa die Versorgung der Menschen in den betroffenen
Regionen mit Mückennetzen – leiden unter den sozialen Missständen in
vielen betroffenen Ländern: immer noch sterben jährlich zwischen
eine und 3 Millionen Menschen an Malaria.
Anfang 1918
kam es dann zur bisher schwersten Grippe-Pandemie: der Spanischen
Grippe von 1918 bis 1920. An dieser starben (auch, weil ihr
aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet
wurde) etwa 50 Millionen Menschen – dreimal so viel wie am Krieg.
Grippe war seit langem als regelmäßig im Herbst wiederkehrende
Infektionskrankheit bekannt, die gelegentlich (zuletzt 1889 bis
1892) zu größeren Epidemien führte. Als Ursache wurde aber noch
(fälschlich) ein Bakterium vermutet. Erst 1933 entdeckten drei
britische Virologen das Influenzavirus (das, wie sich später zeigen
sollte, aus vier Gattungen – Influenza A bis D – besteht, von denen
drei – Influenza A bis C – im Menschen vorkommen). Mit dieser
Entdeckung und der Verfügbarkeit von Antibiotika gegen die häufigen
bakteriellen Folgeinfektionen (vor allem Lungenentzündung) konnte
die Grippe besser bekämpft werden, seit 1942 gibt es zudem
Impfstoffe gegen die Grippe. Allerdings machen es die Epidemien und
Pandemien verursachenden Influenza A und (seltener) B den
Impfstoffentwicklern schwer: sie verändern ständig ihre
Oberflächenmoleküle, an denen sie von den körpereigenen Antikörpern
erkannt werden, so dass in der Regel jedes Jahr neu geimpft werden
muss. 2005 gelang es, das Erbmaterial des Virus der Spanischen
Grippe vollständig zu analysieren. Dabei kam heraus, dass es ein
Influenza A-Virus des Subtyps H1N1 war (die beiden Buchstaben H und
N stehen bei Influenza A-Viren für die Oberflächenmoleküle
Hämagglutinin und Neuraminidase, deren verschiedene Formen
durchnummeriert werden), der beim Menschen bisher nicht auftreten
war. Die Auswertung zeigte auch, dass das Virus sehr hohe
Ähnlichkeit mit einem Vogelgrippe-Virus zeigte, und daher sehr
wahrscheinlich – und erst kurz vor dem Ausbruch – aus diesem
entstanden ist [490].
Schon vorher hatte sich
gezeigt, dass eine Vermischung genetischer Informationen zwischen
verschiedenen Viren (der Fachausdruck lautet "Reassortment") nicht
selten ist: die Grippeepidemie von 1957 (Asiatische Grippe),
der ein bis zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen, und die Hongkong-Grippe
von 1968-1970, an der 700.000 bis eine Million Menschen starben,
gingen auf eine solche Vermischung zurück. Die Erkenntnis, dass
wenige Schritte ausreichen, um ein Vogelgrippe-Virus für Menschen
ansteckend und hoch gefährlich zu machen, lässt viele Virologen
seither eine neue, von einer Vogelgrippe ausgehende Grippe-Pandemie
fürchten (mehr hierzu unten: >> Neue
Infektionskrankheiten).
Allen Krankheiten und bisherigen Epidemien und Pandemien zum Trotz:
In der Summe kam es nach dem Zweiten Weltkrieg auch in den
Entwicklungsländern zu einen Rückgang der Sterberate, so dass heute
alle Länder mindestens in Phase 2 des demografischen Übergangs
sind: Insbesondere in Afrika gibt es viele Länder, in denen die
Bevölkerung kräftig wächst, etwa Uganda, Nigeria oder Angola.
Die Krankheiten der Reichen
Kindersterblichkeit und Infektionskrankheiten sind in
den reichen Ländern von Krebs- und Herz-/Kreislauferkrankungen als
Haupttodesursache abgelöst worden. Dieses erklärt sich zum einen
durch die höhere Lebenserwartung, durch die Krebserkrankungen
zunehmen; zum anderen durch veränderte Umwelt- und
Lebensverhältnisse. Wichtigste Ursache von Lungenkrebs ist der
Tabakkonsum, der seit dem 17. Jahrhundert stark zugenommen hat; und
viele Herz-/Kreislauferkrankungen sind durch Übergewicht und
Bewegungsmangel verursacht. In den reichen Ländern (und bei den
Reichen in den armen Ländern) ist das Problem heute nicht mehr zu
wenig, sondern zu viel Nahrung: es gibt auf der Erde mehr Menschen
mit Übergewicht als Menschen, die hungern. Vor allem ein Überangebot
an billigem Industriezucker trägt hierzu bei. Im Unterschied zu den
früheren Krankheiten und Nahrungsmangel hat hierbei aber der
Einzelne die Abhilfe in der Hand: Nicht rauchen, weniger essen und
mehr Bewegung sind heute das wirkungsvollste Rezept für eine bessere
Gesundheit.
Siehe auch: >> Neue
Infektionskrankheiten
Bevölkerungswachstum und Ökosystem Erde
Die Diskussion um die Bedeutung des Bevölkerungswachstums für die
Erde ist politisch belastet: Gerne verweisen die Industrieländer
auf das Bevölkerungswachstum in den armen Ländern als ungelöstes
Problem, während für die armen Länder die Emissionen aus den
Industrien der reichen Länder das wichtigste Problem sind. Dabei
steht wohl in beiden Fällen der Wunsch im Vordergrund, sein eigenes
Verhalten nicht ändern zu müssen.
Eine genauere Betrachtung zeigt, dass je nach Umweltproblem mal die
eine Seite, mal die andere die Hauptverantwortung trägt. So stieg
die Weltbevölkerung von 1890 bis 1990 um den Faktor 3,5; der Ausstoß
des Treibhausgases Kohlendioxid aber um den Faktor 17. Für den
Treibhauseffekt sind die Autos, Kraftwerke, Kohleöfen und
Ölheizungen der Reichen verantwortlich (mehr dazu >>
hier). Auch die Luftverschmutzung in China ist kein Ergebnis
seiner (dank strenger Geburtenkontrolle relativ langsam) zunehmenden
Bevölkerung, sondern seiner raschen Industrialisierung.
Komplexer ist der Zusammenhang zwischen Wasserverbrauch und
Bevölkerungszahl. Ein Großteil des Wassers geht in die
Landwirtschaft – für die Ernährung von Menschen. Die Erzeugung einer
Tonne Weizen verbraucht 1.000 Tonnen Wasser. Der Nahrungsbedarf
einer wachsenden Menschheit bedingte auch die Ausweitung von Acker-
und Weideland und damit die Vernichtung natürlicher Lebensräume und
die zunehmende Bodenerosion. Im Detail wird das Bild dann aber
wieder unscharf: Nicht nur der Nahrungsmittelbedarf insgesamt,
sondern auch die Luxusansprüche der Reichen spielen eine Rolle – der
Bestand an Rindern auf der Erde wiegt inzwischen genauso viel wie
die gesamte Menschheit, und Regenwälder werden heute oft für den
Sojaanbau für Rinderfutter gerodet. Ebenso hat der Wasserverbrauch
der Landwirtschaft auch viel mit Subventionen und (oft damit
zusammenhängender) schlechter Nutzung zu tun. Und in manchen
Regionen nimmt die Erosion zu, weil Arbeitskräfte fehlen, um etwa
Terrassenfelder zu erhalten. Aber auch der unvermeidliche Einfluss,
den eine Bevölkerung von über 7 Milliarden Menschen auf die übrige
Biosphäre hat, ist bedrohlich. Eine erwartete Bevölkerung von 9
Milliarden Menschen im Jahr 2050 zu ernähren, ohne weitere
natürliche Ökosysteme zu zerstören und ohne die Umweltschäden aus
der Landwirtschaft zu erhöhen, ist eine echte Herausforderung (mehr
dazu >> Wie
9 Milliarden Menschen auf der Erde leben können).
Überbevölkerung führt manchmal auch zu Gewalt; beispielsweise hat
sie 1994 den Völkermord in Ruanda verschärft (mehr dazu >> hier).
Einen großen und oft negativen Einfluss hatten die (oft mit
Bevölkerungswachstum zusammenhängenden) Wanderungsbewegungen.
Beispiele sind die Besiedelung des Amazonasgebietes in Brasilien
oder die indonesischen Umsiedlungsprogramme, die massive
Regenwaldzerstörungen zur Folge hatten. Aber auch hier ist der
wichtigste Faktor nicht die Zahl der Menschen an sich, sondern (aus
ökologischer Sicht) falsche politische Entscheidungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die zunehmende Bevölkerungszahl
hat sicher nachteilige Folgen, vor allem für die natürlichen
Ökosysteme, die unsere Überlebensgrundlage sind. Dies alleine ist
Grund genug, das Ende des Bevölkerungswachstums zu fördern, wo immer
es geht. Für die Umwelt ist zumindest kurzfristig aber
entscheidender, wie diese Menschen leben. Heute streben die meisten
den ressourcen- und energieintensiven Lebensstil der reichen Länder
an. Unsere Verantwortung ist es daher, den Ressourcen- und
Energieverbrauch unseres Lebensstils so zu verringern, dass alle
Menschen daran teilhaben könnten (mehr dazu >> hier).
Dies gilt auch für die Produktion von Treibhausgasen (siehe >>
hier).
Wie viele Menschen kann die Erde tragen?
Da die Auswirkungen der Bevölkerung in erster Linie von unserem
Lebensstil, also von gesellschaftlichen und kulturellen Werten
abhängen, kann es auf diese Frage keine naturwissenschaftlich
hergeleitete Antwort geben. In jedem Fall steht es uns schlecht zu
Gesicht, diesbezüglich über andere Länder zu schimpfen: Auch im Jahr
2050, mit voraussichtlich 9,2 Milliarden Menschen, wird die Erde im
Durchschnitt nur gut ein Viertel der Bevölkerungsdichte haben, die
Deutschland heute schon hat (mehr >> hier).
Das Gesamtbild des Bevölkerungswachstums
im Agrar- und Industriezeitalter. Eigene Abbildung.
Viele Anzeichen sprechen dafür, dass die Bevölkerung danach nicht
weiter anwächst, sondern sinken wird (mehr dazu >> hier).
Auch sind immer Überraschungen möglich; der Kampf gegen die
Infektionskrankheiten etwa ist noch nicht endgültig gewonnen.
Neue
Infektionskrankheiten
Seit der Asiatischen Grippe von 1957, der Hongkong-Grippe von 1968
bis 1970 und der Aufklärung der Entstehung der Spanischen
Grippe von 1918 beobachtet die Weltgesundheitsorganisation
Vogelgrippen ("Geflügelpest") ganz genau. Diese können nicht nur
Nutzgeflügel-Bestände vernichtet, sondern auch zur Entstehung neuer,
für den Menschen gefährlicher Grippestämme führen (siehe
hier). Dabei richtete sich der Blick insbesondere auf
Schweine, denn diese können sich mit Vogel-, Menschen- und Schweinegrippe
anstecken. Ist ein Schwein mit mehr als einem Virenstamm
infiziert, kann hier die Vermischung genetischer Information
stattfinden. Da auch der Mensch sich mit Schweinegrippe anstecken
kann (weltweit sind bisher über 500 Fälle bekannt, in Deutschland
gibt es fünf bestätigte Fälle), galt dieses als wahrscheinlicher
Zwischenschritt bei der Übertragung von Vogelgrippe auf den
Menschen (im Fall der Spanischen Grippe reichen die Daten nicht, um
die Reihenfolge mit Sicherheit festzustellen; aber auch hier
entstand ungefähr zur selben Zeit wie der menschliche H1N1-Stamm ein
H1N1-Schweinegrippe-Stamm). Das ist nicht nur Gedankenspielerei, das
"Schweinegrippe"-Virus, das 2009 die Fachwelt und die
Öffentlichkeit beschäftigte, enthielt Bestandteile aus Vogel-,
Schweine- und Menschenvirus-Erbmaterial (nahm beim Menschen dann
jedoch überwiegend einen milden Verlauf). Aber bereits 1997 war die
erste bekannte direkte Ansteckung von Menschen durch einen (H5N1-)
Vogelgrippe-Virus erfolgt (in Hongkong), der Zwischenschritt war
also nicht zwingend nötig. Seit 2013 kam es zu etwa 850 Ansteckungen
und 450 Todesfällen durch diese Vogelgrippe. Seit
2013 erfolgen zudem mindestens 1.500 Ansteckungen und mindestens 600
Todesfälle durch einen anderen (H7N9-)Vogelgrippe-Virus. Vermutlich
erfolgten alle bisherigen Ansteckungen durch engen Kontakt zu
erkrankten Vögeln. Was die Forscher besonders beunruhigt, ist die
Möglichkeit, dass solche Vogelgrippe-Viren durch die Vermischung
ihrer Erbmaterials mit menschlichen Viren (oder auch durch eine
Mutation) die Fähigkeit erlangen, sich von Mensch zu Mensch zu
verbreiten. Für viele Fachleute ist es daher nur eine Frage der
Zeit, bis eine neue Grippe-Pandemie entsteht; und dann werden neue
Ausbreitungsmöglichkeiten mit weltweitem Flugverkehr gegen die
modernen pharmazeutischen Möglichkeiten stehen – gegen die H5N1 und
H7N9-Typen gibt es keinen Impfstoff, der muss im Fall der Fälle erst
entwickelt werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Virus die Artengrenze überspringt,
ist umso größter, je mehr Tiere mit vielen Menschen auf engem Raum
zusammenleben. Das ist oftmals in Ostasien der Fall: Während in
Amerika und Europa die Tierzucht historisch an Landbesitz gebunden
war und in letzter Zeit zwar zentralisiert wurde, aber im ländlichen
Raum blieb, entstand die Massentierhaltung im bevölkerungsreichen
Asien auf Basis von Importfutter, und daher in der Nähe von Häfen
und Kunden – also in oder im Umland von großen Städten. So sind die
Zentren der Hühner- und Schweinezucht in Asien Schanghai, Bangkok,
Hongkong und Jakarta. Dass die beiden Vogelgrippe-Epidemien in Asien
entstanden, ist daher kein Zufall. (Allerdings gibt es Potenzial
hierfür nicht nur in Asien, die "Schweinegrippe" von 2009 stammt
aus Mexiko.)
Aber die Grippe war nicht der einzige Kandidat für eine neue
globale Pandemie. Bereits seit 1981 war eine solche in Gang: damals
waren in Los Angeles und New York das Auftreten einer eigentlich
seltenen, von einem Pilz ausgelöste Lungenentzündung und mehrere
Kaposi-Sarkome (eine ebenfalls eigentlich seltene Krebserkrankung)
bei jungen Männern aufgefallen. Nachdem diese Häufung einmal
aufgefallen war, fiel sie auch anderswo auf. Gemeinsam war ihnen
allen, dass das Immunsystem der Betroffenen betroffen schien, 1982
wurde die Krankheit daher Acquired Immune Definciency Syndrome
(AIDS) (dt. "Erworbenes Immunschwächesyndrom" genannt. Viele
der Betroffenen waren homosexuell, vermutet wurde eine sexuelle
Übertragung – das führte zu einer Stigmatisierung der Krankheit. In
den USA bezeichneten konservative Politiker wie Jesse Helms und
evangelikale Prediger wie Jerry Falwell die Krankheit als "Gottes
Rache für Homosexuelle", US-Präsident Ronald Reagan erwähnte
die Krankheit erstmals 1987, nachdem ein bei einer
Bluttransfusion infizierter Teenager, der von der Schule verweisen
wurde, Schlagzeilen gemacht hatte (zu der Zeit waren bereits mehr
als 20.000 Amerikaner an AIDS gestorben). Auf der anderen Seite
bildeten sich Aktivistenorganisationen, die sich mit dem Slogan
"Silence = Death" (Schweigen = Tod) gegen das staatliche Schweigen
wehrten und Geld für mehr Forschung forderten. 1983/84 war von Luc
Montaignier vom Institut Pasteur in Paris und von Robert Gallo vom
National Institute of Health der USA der Auslöser gefunden worden,
der später Human Immunodeficiency Virus (HIV) genannt
wurde. Da HIV sich in Zellen des Immunsystems einnistet und dieses
schwächt, erwies sich die Entwicklung von Medikamenten aber als
schwierig, erst 1995 gelang es dem US-Forscher David Ho, durch
Kombination verschiedener Medikament eine wirksame Therapie zu
entwickeln, die seit 1996 angewandt wird. Damit konnte die Todesrate
in den USA gesenkt werden. Die lebenslang notwendige Behandlung
kostete aber 10.000 bis 15.000 US-Dollar pro Jahr; für viele arme
Länder war sie nicht bezahlbar. Das traf insbesondere Afrika,
Entstehungsort [494]
und mittlerweile Epizentrum der AIDS-Pandemie. Viele Aktivisten
zweifelten an, dass die Preise für die AIDS-Medikamente wirklich
gerechtfertigt waren, und Brasilien und Indien begannen mit der
Produktion von Nachahmerpräparaten (Generika). Im Rest der Welt
verhinderten Patente dieses, und als Südafrika per Gesetz die
Herstellung und den Import von Generika erlauben wollte, klagen die
Pharmakonzerne mit Unterstützung der US-Regierung unter Bill Clinton
und der Welthandelsorganisation dagegen. Dadurch kippte aber die
Stimmung in den USA, und Stiftungen wie die Bill und Melinda Gates
Foundation nahmen sich des Themas an. Und die neue US-Regierung:
Unter George W. Bush stellte sie 15 Milliarden US-Dollar für den
Kampf gegen AIDS in Afrika und der Karibik zur Verfügung (und die
Pharmakonzerne zogen ihre Klagen zurück). 2009 zahlten die USA nach
eigenen Angaben die Therapie für 2,5 Millionen Menschen. Seit 2005
ist weltweit die Zahl der AIDS-Toten rückläufig, aber jedes Jahr
sterben noch immer rund eine Millionen Menschen an AIDS; insgesamt
sind es bisher mehr als 32 Millionen.
Zoonosen
Nachdem entdeckt worden war, dass AIDS vermutlich auf den Verzehr
von Schimpansen zurückgeht [494]
und Vogel- und Schweinegrippen Epidemien ausgelöst hatten, richtete
sich der Blick vieler Epidemiologen wieder stärker auf Zoonosen:
Krankheiten, die von Wirbeltieren auf Menschen übertragen werden
können. Zoonosen sind seit langem bekannt, die Pest ist ein
Beispiel: der Pesterreger Yersinia pestis lebt in Ratten und
wird von Rattenflöhen aus Menschen übertragen. Historisch gehen die
meisten Krankheiten auf Zoonosen zurück, aber wenn ein Erreger sich
im Laufe der Zeit so verändert, dass er in anderen Wirbeltieren als
dem Menschen nicht mehr überleben kann, spricht man aber nicht mehr
von einer Zoonose. So sind einst auch die Pocken vermutlich durch
auf den Menschen übertragene Kuhpocken (die immer noch eine Zoonose
sind) entstanden, konnten aber irgendwann in Kühen nicht mehr
überleben. Der Unterschied ist wichtig, denn Zoonosen sind
schwieriger zu bekämpfen als andere Krankheiten: da sie auch in
Wirbeltieren vorkommen (die hierdurch nicht einmal erkranken
müssen), muss – zumindest solange es keine wirksamen Impfungen gibt
– zur Vermeidung andauernder Neuansteckungen auch die
Wirbeltierart, in der der Erreger vorkommt (der "Reservoirwirt", wie
die Ratte bei der Pest) und der Übertragungsweg (der "Vektor", wie
die Rattenflöhe bei der Pest) bekannt sein und ggf. bekämpft werden.
Zum anderen fürchtet man, dass neue Zoonosen in
Zukunft häufiger auftreten können: mit zunehmender Vernichtung
intakter Lebensräume nimmt zum einen die Zahl der Wildtiere ab, und
kommen zum anderen Wildtiere und Menschen immer enger in Kontakt.
Besonders wahrscheinlich ist der Kontakt mit tierischen
Krankheitserregern beim Kontakt mit Körperflüssigkeiten, vor allem
Blut, wie er beim Erlegen von "bushmeat" in Afrika oder auf
den "wet markets" (Lebendmärkten) Asiens vorkommt. Wenn
Krankheitserreger von Wildtieren dann im Menschen überleben können,
ist der immer zahlreicher werdende Mensch für sie eine idealer
"Lebensraum": aus ökologischer Sicht macht ein Krankheitserreger
nichts anderes als ein Löwe, der eine Gazelle frisst) nur dass der
Löwe groß ist und seine Beute von außen angreift, während die
Erreger klein [aber viele] sind und ihre Beute von innen her
angreifen) – er sucht Nährstoffe und Energie, um sich selber zu
vermehren. Das ist nach Darwin der
Maßstab für biologischen Erfolg, und gelingt umso besser, je größer
– im Falle der Krankheitserreger also zahlreicher – der Lebensraum
ist. Der Übergang auf den Menschen ist für Krankheitserreger also
eine ökologisch äußert sinnvolle Strategie, vor allem, wenn die
eigentliche Wirtsspezies immer seltener wird. Dass ein Zusammenhang
zwischen der Vernichtung von Lebensräumen und dem Auftreten neuer
Zoonosen tatsächlich besteht, haben inzwischen mehrere
Untersuchungen gezeigt [496].
Im Februar 2003 meldete China der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), dass in der Provinz Guangdong seit November 2002 Fälle eine
Lungenkrankheit ausgebrochen sei; im Februar 2003 brachte ein Arzt
aus Guangdong sie beim Besuch einer Hochzeit nach Hongkong, wo Ärzte
bei ihm eine atypische Lungenentzündung feststellten. Er verstarb,
hatte aber schon andere Menschen angesteckt: im März tauchte die
neue Lungenentzündung dann in Vietnam und anderen südostasiatischen
Ländern auf. Die Krankheit wurde als "Schweres Akutes
Respiratorisches Syndrom" (SARS) bekannt. Schon Ende März
konnten Forscher des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin in
Hamburg und ungefähr zeitgleich Forscher des US-amerikanischen
Center for Disease Control (CDC) den Auslöser identifizieren: ein
neuartiges Coronavirus (SARS-CoV; die Bezeichnung
Coronavirus leitet sich von den an die Sonnenkorona erinnernden
Fortsätze der Außenhülle der Viren ab). Das konsequente Isolieren
von Erkrankten sorgte mit dafür, dass SARS glimpflich ausging:
weltweit starben "nur" rund 800 Menschen an der Krankheit, aber es
wusste auch niemand so genau, warum die Epidemien abgeflaut war.
Auch wo die Krankheit herkam, konnte nicht zweifelsfrei geklärt
werden. Als mögliche Ursache gelten Schleichkatzen oder Fledermäuse
(Chinesische Hufeisennasen), die als Spezialitäten gegessen werden
und auf südostasiatischen Tiermärkten oft lebend angeboten werden [498].
Von den Fachleuten war daher niemand überrascht, als im Frühjahr
2020 ein mit dem SARS-Virus verwandtes Coronavirus (SARS-CoV-2)
eine Pandemie auslöste, die als COVID-19 bekannt wurde.
Erste Fälle dieser neuen Lungenkrankheit gab es bereits im Dezember
2019 (daher COVID-19) in der chinesischen Stadt Wuhan, am 13. Januar
2020 gab es die ersten Todesfälle außerhalb Chinas (in Thailand), am
23. Januar außerhalb Asiens (in den USA). Beide waren mit Reisen
nach Wuhan verbunden. Am 30. Januar erklärte die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) COVID-19 zur "Gesundheitlichen
Notlage internationaler Tragweite" (aber noch nicht zur Pandemie,
dies erfolgte am 11. März). Diesmal gelang es nicht, die Krankheit
einzudämmen; sie entwickelte sich zur weltweiten Pandemie mit den
Schwerpunkten (in dieser zeitlichen Reihenfolge) Europa, USA,
Lateinamerika und Indien. Offiziell sind bisher (Stand: 27.9.2020,
aktuelle Zahlen: WHO-Dashboard)
rund eine Million Menschen an der Pandemie verstorben. Auch beim
SARS-CoV-2 ist die Entstehung noch nicht abschließend geklärt,
ähnliche Coronaviren wurden in Schuppentieren, Marderhunden und
Hufeisennasen gefunden. Für viele der heute Betroffenen ist COVID-19
die stärkste Beeinträchtigung durch eine Pandemie, die sie bisher
erlebt haben (AIDS hat aufgrund seiner überwiegend sexuellen
Übertragung das Alltagsleben weit weniger beeinträchtigt). Da bisher
keine Impfung verfügbar ist, ist das Einhalten der Hygiene-Regeln
(AHA: Abstand – Hände waschen – Atemschutz) der beste Schutz vor der
Krankheit.
Dabei ist COVID-19 (oder auch eine neue
Grippe-Epidemie) bei weitem nicht der schlimmste denkbare Fall, die
Alpträume der Virologen und Epidemiologen sehen anders aus. Beispiel
Ebola: ebenso wie das AIDS-Virus durch den Verzehr von „bushmeat“
auf den Menschen übergesprungen ist, war dies auch beim Ebola-Virus
der Fall. Ebola geht mit Fieber, inneren und äußeren Blutungen und
einer hohen Sterblichkeit einher; die Krankheit wurde 1976 erstmals
im Sudan und im Kongo (in der Nähe des Ebola-Flusses, dem die
Krankheit ihren Namen verdankt) bemerkt und hat im Jahr 2014/2015
beim bisher größten Ausbruch in Westafrika mindestens 11.000
Todesopfer gefordert. Ein zweiter Ausbruch in Zentralafrika forderte
2018 bis 2020 über 2.000 Todesopfer. Die Übertragung von Mensch zu
Mensch erfolgt über Körperflüssigkeiten, von Schweiß über Speichel
bis zu Urin oder Blut und Erbrochenem; daher sind insbesondere
medizinisches Personal und pflegende Angehörige von Erkrankten
gefährdet. Es ist aber durch die Vermischung („Reassortment“)
genetischer Infektionen bei Viren auch denkbar, dass das Ebola-Virus
(oder ein anderes Virus, das mit Blutungen verbundene
Fiebererkrankungen verursacht, wie das Lassavirus oder Hantaviren)
in Zukunft die Fähigkeit erwirbt, durch Tröpcheninfektion übertragen
zu werden (wofür es bisher keinen Hinweis gibt); solche
Möglichkeiten gehören zu den Alpträumen der Virologen und
Epidemiologen.
In den Tropen und tropennahen Subtropen bereitet zudem
das durch Mücken (hauptsächlich der Art Aedes aegypti)
soweit gelegentlich auch beim Geschlechtsverkehr mit Sperma
übertragene Zika-Virus Sorgen: lange kam das
Virus, das zum zumeist milden Zikafieber, bei Schwangeren aber auch
zu Mißbildungen am Fötus – Ausbildung besonders kleiner Köpfe
(„Mikrocephalie“) – führen kann, nur in Afrika und Südasien vor.
Seit 2007 wurden aber Ausbrüche in Ozeanien bekannt, seit 2015 kam
es erstmals und gehäuft auch zu Erkrankungen in Lateinamerika. In
Brasilien wurden 2015/2016 innerhalb von nur dreieinhalb Monaten
3.900 Verdachtsfälle von Mikrocephalie gemeldet (gegenüber von sonst
200 im Jahr). 2019 kam es erstmals zur (erkannten) Übertragung von
Zika-Viren – vermutlich durch die sich seit den 1990er Jahren in
Europa ausbreitende Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus)
– in Südfrankreich. Das Zika-Virus gehört aufgrund der Übertragung
durch die wärmeliebenden Aedes-Mücken zu den Krankheiten, die
vermutlich vom Klimawandel
profitieren werden.
Siehe zum Thema auch:
>> Tiefe
Gräben in Ostafrika – Was hat Überbevölkerung mit dem
Völkermord in Ruanda
1994 zu tun?
Weiter mit:
Strategien für die Zukunft:
>>
Bevölkerung und Gesundheit
Die Folgen der Industrialisierung für das Ökosystem Erde
>> Böden
>> Rohstoffe
>>
Wassernutzung
>>
Wasserverschmutzung
>>
Luftverschmutzung
>> Energie
>> Klimawandel
>> Chemikalien
>> Abfall
>>
Gefährdung der Biodiversität
>>
Globale Änderungen
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Übersicht Das Zeitalter der Industrie