Strategien für die Zukunft

Wirtschaften mit viel weniger Rohstoffverbrauch
Die Faktor-10-Strategie

Um unsere materiellen Bedürfnisse mit den Grenzen des Ökosystems Erde vereinbar zu machen, werden Unternehmen in Zukunft Dienstleistungen statt Produkte verkaufen, nicht erneuerbare Rohstoffe viel konsequenter in Kreisläufen führen und müssen wir alle die Funktionsfähigkeit der natürlichen Ökosysteme schützen und pflegen.

Entmaterialisierung der Wirtschaft

Unser Rohstoffverbrauch ist weder zukunftsfähig noch weltweit übertragbar; eine radikale Entmaterialisierung ist die Herausforderung für die Zukunft (>> Rohstoffe) – für die reichen Industrieländer heißt das, ihren Rohstoffverbrauch auf ein Zehntel zu reduzieren. Dieser Wert ergibt sich aus der Tatsache, dass der globale Ressourcenverbrauch heute schon zu hoch ist (siehe Rohstoffe >> Unser ökologischer Fußabdruck) und der Forderung nach gleichem Recht für alle – in diesem Fall gleichem Anteil für alle Menschen: Zum einen eine Frage der Gerechtigkeit, zum anderen praktisch der einzige Weg, die aufstrebenden Schwellenländer wie China und Indien zum Umschwenken zu bringen. (Die heutigen Warnungen der reichen Länder vor der Umweltzerstörung in Entwicklungs- und Schwellenländern sind mit den Worten des amerikanischen Journalisten Mark Hertsgaard “das gleiche, wie wenn ein Übergewichtiger den Bettler vor den Gefahren der Kohlenhydrate warnt – der Mahnung fehlt ein gewisses moralisches Gewicht.”)

Eine Reduzierung unseres Rohstoffverbrauchs auf ein Zehntel wird seit Anfang der 1990er Jahre als Faktor-10-Strategie von Friedrich Schmidt-Bleek und seinen Mitstreitern vertreten; ihre Arbeiten zeigen, dass diese Reduzierung erreichbar ist – aber auch eine neue industrielle Revolution nach sich ziehen würde. Kernpunkte dieser Strategie ist zum einen, Produkte wo immer möglich durch Dienstleistungen zu ersetzen; zum anderen, den Materialverbrauch von Produkten und Dienstleistungen viel ernster zu nehmen als dieses heute der Fall ist.

Ein Index für die Rohstoffeffizienz

Ausgangspunkt der Entmaterialisierung unserer Wirtschaft muss eine genaue Kenntnis der in den jeweiligen Regionen und für bestimmte Produkte ausgelösten Materialströme und die von ihnen ausgehenden Umweltbelastungen sein. Erst eine detaillierte Kenntnis der >> ökologischen Rucksäcke erlaubt es, die Gestaltung und Herstellung von Produkten zu entmaterialisieren. Friedrich Schmidt-Bleek hat dafür den MIPS vorgeschlagen –  den “Material-Input pro Service-Einheit”. Dieser umfasst den Rohstoff- und Energieeinsatz (einschließlich ökologischem Rucksack) bei der Herstellung, beim Transport, beim Gebrauch und bei der Entsorgung von Produkten, bezogen auf eine “Service-Einheit”, eine produktspezifische Dienstleistung. Solche Dienstleistungen (mehr dazu >> hier) könnten etwa 5 Kilogramm gewaschene Wäsche für eine Waschmaschine sein. Der Bezug auf Dienstleistungen ist wichtig, denn im Grunde sind es ja Dienstleistungen, nicht Produkte, die unser Wohlbefinden erhöhen – wir wollen ja nicht unbedingt eine Waschmaschine haben, sondern brauchen die Waschmaschine, um unsere Wäsche gewaschen zu bekommen; die Dienstleistung “saubere Wäsche” ist also entscheidend.

Rohstoff-Produktivität

Der zur Berechnung des MIPS verwendete Material-Input ist zugleich Grundlage für die Berechnung der Rohstoff-Produktivität: Diese ist das Gewicht des Produktes geteilt durch den Material-Input. Ein Beispiel: Ein Motorrad von 190 Kilogramm Gewicht hat einen ökologischen Rucksack von 3.300 Kilogramm; seine Rohstoff-Produktivität beträgt damit 190 / (3.300 + 190) = 0,054 oder 5,4 Prozent. Nur 5,4 Prozent der im Ökosystem bewegten Materialien landen letztendlich im Produkt.

MIPS basiert also auf dem Rohstoffverbrauch eines Produkts (der aus Eigengewicht plus ökologischem Rucksack besteht). Um diesen in der Praxis einfacher berechnen zu können, gibt es für einzelne Roh- und Hilfsmittel fertig berechnete Rohstoff-Faktoren: So stecken etwa in einer Tonne Papier 15 Tonnen an Materialverbrauch, in einer Tonne Kupfer 500 Tonnen Materialverbrauch (aber nur 10 Tonnen, wenn es recyceltes Kupfer ist), in einer Tonne Gold weit über 500.000 Tonnen Materialverbrauch. Mit solchen Werten weiß jeder Produktentwickler, dass ein paar Gramm Kupfer schnell ein paar Kilo ökologischer Rucksack für das Produkt ausmachen – und betrachtet Kupfer vielleicht mit anderen Augen.

Um den MIPS zu reduzieren, gibt es zwei Wege: Zum einen, weniger Material zu verwenden bzw. wo immer möglich Materialien mit niedrigerem Rohstoff-Faktor zu verwenden; zum anderen, die Service-Einheiten, also die Nützlichkeit des Produktes zu erhöhen (Der MIPS berechnet sich ja “pro Service-Einheit” – der Materialverbrauch muss immer im Verhältnis zum damit erzielten Nutzen betrachtet werden).

Den Rohstoffverbrauch senken

Um den Rohstoffverbrauch von Produkten zu senken, müssen zukünftig bereits bei der Produktentwicklung Rohstoff- und Energieverbräuche für die Produktion (mitsamt der ökologischen Rucksäcke und einschließlich des Transportaufwands), Rohstoff- und Energieverbräuche während der Nutzung und Aufwendungen für Abfallsammlung und Entsorgung berücksichtigt werden – also über den gesamten Lebenszyklus des Produktes, von der Wiege (Rohstofflager) bis zur Bahre.

Der MIPS kann beispielsweise durch Materialaustausch reduziert werden: So hat die Firma GREENoneTEC, die Sonnenkollektoren herstellt, alleine durch den Ersatz von Kupfer durch Kunststoffe den MIPS pro Quadratmeter Kollektorfläche bei der Herstellung um den Faktor 8 senken können. Der Rohstoffverbrauch wird ebenfalls gesenkt, wenn Unternehmen sich um die Minimierung von Abfallmengen bemühen – Abfälle sind ja nichts anderes als ungenutzte Rohstoffe. Schrittmacher sind hier Organisationen wie die >> Zero Waste Alliance, die Abfallvermeidung durch Prozess- und Produktinnovationen erreichen wollen; ein Konzept, das sich auch auf gasförmige und flüssige Emissionen ausdehnen lässt, wie die >> Zero Emissions Research and Initiatives zeigen.

Schließlich können die Abfälle des einen Unternehmens Rohstoffe für ein anderes Unternehmen sein; dieser Aspekt wird systematisch von der Industriellen Ökologie aufgegriffen: Geschickt angelegte Industrieparks nutzen so einen Großteil der Material- und Energieströme in Kreisläufen und Kaskaden und ahmen so den Material- und Energiefluss natürlicher Ökosysteme nach. Eines der ersten und bekanntesten Beispiele ist der Industriepark von Kalundborg in Dänemark (>> Fallstudie der UNEP).

Dabei spielt weiterhin auch die Qualität der verwendeten Materialien eine Rolle: Gefahrstoffe müssen konsequent von natürlichen Kreisläufen getrennt gehalten werden und sind damit wesentlich problematischer als Materialien, die sich nach Gebrauch in natürliche Kreisläufe einfügen, etwa über Kompostierung. Mit diesem Aspekt (Öko-Effektivität) befasst sich etwa Michael Braungart und seine Mitarbeiter (>> EPEA). >> Fallstudie Interface (“Dematerialisierung”, Webseite Faktor X [siehe unten])

Den Nutzen der Produkte erhöhen

Wenn eine Waschmaschine doppelt so lange hält, also doppelt so viele Waschgänge abliefert, ist der MIPS halbiert: Hohe Lebensdauer von Produkten ist also ein Weg, die Anzahl der Service-Einheiten zu erhöhen. Damit diese auch länger genutzt werden, gehört eine zeitlose Gestaltung zur hohen Lebensdauer, sowie Reparaturfreundlichkeit und eine modulare Gestaltung, um bestimmte Teile (statt ganzer Geräte) austauschen zu können.

Ein anderer Aspekt ist Multifunktionalität: Wenn etwa Faxgerät, Scanner und Drucker in einem Gerät vereint werden, können doppelte elektronische Bauteile und zwei Gehäuse gespart werden.

Die konsequente Weiterentwicklung des Nutzengedankens ist es, dass Hersteller keine Geräte mehr verkaufen, sondern Dienstleistungen: So verkauft ein Hersteller von Waschmaschinen keine Waschmaschinen mehr, sondern stellt diese zur Verfügung (und übernimmt Wartung und Reparaturen) und verkauft Waschgänge. Vorteil: Bei diesem System profitiert der Hersteller wirtschaftlich von hoher Lebensdauer und Reparaturfreundlichkeit der Geräte; was die Produktentwicklung neu orientieren würde. Siehe auch die >> Fallstudie Ender Klimatechnik von der Webseite Faktor X.

Wirtschaftliche Folgen

Effiziente Technologien sind schon heute ein Grund für die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft. Der Spielraum zur Steigerung der Rohstoff- und Energieeffizienz ist aber noch gewaltig (seit 1960 wurde die Arbeitsproduktivität um den Faktor 4 gesteigert, die Materialproduktivität nur um den Faktor 2, die Energieproduktivität um den Faktor 1,5). Dies liegt zum einen an falschen Rahmenbedingungen (Besteuerung der eigentlich erwünschten Arbeit statt des unerwünschten Energie- und Rohstoffverbrauchs, Energie- und Rohstoffpreise, die nicht die wirklichen Kosten widerspiegeln), zum anderen aber auch an Wissenslücken in der Wirtschaft und beim Verbraucher.

Effiziente Technologien und Strukturen stärken regionale Wirtschaftsstrukturen, da etwa Hausisolierungen und Reparaturen in der Regel von lokalen Handwerkern ausgeführt werden, und sie schaffen Arbeitsplätze, da Rohstoffe und Energie durch Intelligenz und Arbeit ersetzt werden. Andere Länder werden diesen Weg nachahmen, weil sie die wirtschaftlichen Vorteile erkennen, dem Vorbild der reichen Länder folgen oder von Umweltproblemen dazu gezwungen werden: So können weltweit Verteilungskonflikte um Energie- und Rohstoffquellen vermieden werden, die Effizienzrevolution ist also auch ein Baustein der Friedenssicherung.

Webtipps

>> www.factor10-institute.org/: Webseite des von Friedrich Schmidt-Bleek geleiteten Factor 10 Institute (englischsprachig)

>> Faktor X – Ressourcen intelligenter nutzen: Einführung der Aachener Stiftung Kathy Beys in das Thema.

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>> Wasser fürs Leben, Wasser für Menschen

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© Jürgen Paeger 2006 – 2009