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Das Leben

Biodiversität:
Die Vielfalt des Lebens

Die Gesamtheit des Lebens auf der Erde wird auch “Biosphäre” genannt; sie bildet eine dünne Schicht, die die Erde von der tiefsten bis zur höchsten Stelle überzieht. Überall, wo es flüssiges Wasser, organische Stoffe und eine Energiequelle gibt, gibt es Leben. Ein Merkmal des Lebens ist die Anzahl, die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit der Lebewesen, biologische Vielfalt oder Biodiversität genannt. Die biologische Vielfalt ist Grundlage für die zahlreichen Dienstleistungen des Ökosystems Erde, ohne die auch menschliche Gesellschaften unvorstellbar wären.

Grafische Darstellung der Verteilung der Artenvielfalt über die Gruppen von Lebewesen

Heute sind etwa 1,75 Millionen Arten bekannt, davon sind fast die Hälfte Insekten.
Eigene Abbildung nach Zahlen von I. Harrison, M. Laverty und E. Sterling:
Species Diversity (2004): http://cnx.org/content/m12174/1.3/.

Das Leben auf der Erde

Das Leben auf der Erde hat diese geprägt: Es hat zum Beispiel vor Milliarden Jahren verhindert, dass der Wasserstoff auf der Erde ins Weltall entweicht (siehe >> hier), es beeinflusst den Wasserkreislauf der Erde (siehe >> hier) und es hat den Sauerstoff in unserer Atemluft  erzeugt (siehe >> hier). Dabei ist – nicht ohne Rückschläge (siehe die Seite >> Massenaussterben) – im Laufe der Zeit eine außerordentliche Vielfalt an Lebensformen entstanden, die immer mehr Lebensräume besiedeln konnten (siehe die Seite >> Die Geschichte des Lebens auf der Erde). Organische Stoffe und Energie sind als Voraussetzungen für das Leben auf der Erde fast überall zu finden; daher ist >> Wasser das begrenzende Element. Wie sehr die Verfügbarkeit von Wasser das Leben und damit das Bild der Erde prägt, zeigen die sonnenbeschienenen Tropen: Ist Wasser knapp, entstehen Wüsten. Ist Wasser reichlich, entstehen tropische Regenwälder, der Inbegriff üppig wuchernden Lebens.

Wie verbreitet das Leben auf der Erde ist, hat man erst in den letzten Jahren verstanden. Als der britische Polarforscher Robert Scott im Jahr 1903 während seiner Südpolarexpedition mit der “Discovery” die antarktischen Trockentäler erkundete, berichtete er: “Wir haben nichts Lebendiges entdeckt, nicht einmal Moos oder Flechten.” Tatsächlich sind diese Trockentäler extrem unwirtlich: Im Winter wird es unter 50 Grad Celsius kalt, es fällt weniger Niederschlag als in der Sahara, die Böden bestehen aus rotem Staub auf blankem Gestein, die Winde sind so stark, das sie Felsen spalten. Aber heute wissen wir: Es gibt hier artenreiches Leben –  Bakterien und Algen, die Sonnenenergie nutzen; Tiere, die von diesen Bakterien und Algen leben; Fadenwürmer, die Bakterien, Algen und Tiere fressen; Pilze, die abgestorbene Lebewesen zersetzten. Nur sind selbst die größten Arten so klein, dass sie ohne Mikroskop kaum zu entdecken sind: daher konnte Scott sie leicht übersehen.

Lebensgemeinschaften finden sich auch in so unwahrscheinlichen Lebensräumen wie überfrorenen Salzwasserlaken im antarktischen Meereis, in den Wänden vulkanischer Heißwasserschlote der Tiefsee und in den heißen Schwefelquellen des Yellowstone-Nationalparks in den USA. Das Bakterium Deinococcus radiodurans übersteht das Tausendfache der Radioaktivität, die beim Abwurf der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki freigesetzt wurde. Selbst im Tiefengestein der Erde bis in eine Tiefe von über 3.000 Metern leben Bakterien und Pilze; sie beziehen ihre Energie aus anorganischen chemischen Stoffen und sind vom Leben auf der Erdoberfläche völlig unabhängig. Diese Entdeckungen haben unser Bild vom Leben verändert, vor allem aber haben sie uns vor Augen geführt, wie wenig wir über das Leben wissen: Es fällt uns nicht nur schwer, zu sagen, was Leben eigentlich ist (>> mehr), es ist viel weiter verbreitet als noch vor kurzem geglaubt, und es ist der Wissenschaft zum größten Teil noch unbekannt (>> siehe unten).

Heute wissen wir aber: Leben gibt es auf der Erde überall, wo es Wasser, Nährstoffe und eine Energiequelle gibt. Bakterien und >> Archaeen kommen überall vor, wo es Leben gibt. Sobald ein wenig mehr Platz da ist, kommen Einzeller und Wirbellose dazu, die die Mikroben und ihre eigenen Artgenossen jagen. Je mehr Platz zur Verfügung steht, desto größer werden die Tiere; die größten Tiere leben in den Savannen oder den Weltmeeren. Die Vielfalt der Lebewesen nimmt mit hoher Sonneneinstrahlung, vielseitigen Geländeformen und klimatischer Stabilität zu: Daher findet sich die größte Vielfalt in den Tropen (>> mehr).

Einige ökologische Grundbegriffe

Alle Lebewesen beeinflussen andere Arten: Tiere fressen etwa Pflanzen, oder verbreiten mit ihrem Kot deren Samen. Diese Beziehungen sind äußert vielfältig und auch (je nach Lebewesen mehr oder weniger) flexibel. Jedes Lebewesen ist aber mit anderen Lebewesen – der eigenen Art, mit denen es eine Population bildet, und anderer Arten –  vernetzt: Sie leben in einer Lebensgemeinschaft (Biologen nennen sie “Biozönose”) und spielen darin eine bestimmte Rolle. Diese wird beschrieben, indem man untersucht, wer von wem gefressen wird oder wer wen frisst, wer mit wem konkurriert oder kooperiert – wie also Stoffe und Energie fließen. Die Lebensgemeinschaften bilden zusammen mit ihrer unbelebten Umwelt ein Ökosystem.

 Grafische Darstellung der Wechselbeziehungen in einem Ökosystem

Wechselbeziehungen in einem Ökosystem. Eigene Abbildung, verändert nach Friedrich-Karl
Holtmeier, Tiere in der Landschaft, 2. Aufl. 2002, S. 12. Zur “Umwelt” siehe auch >> hier.

Die Größe eines Ökosystems ist nicht vorgegeben und wird je nach Untersuchungszweck festgelegt; ein Ökosystem kann also beispielsweise ein Teich oder auch die Gewässer insgesamt sein. Auf der obersten Ebene kann die Erde selbst als ein >> riesiges Ökosystem verstanden werden. Die Position einer Art in ihrem Ökosystem nennen die Biologen ihre ökologische Nische. Diese hängt damit ab von den Eigenschaften der Art, ihrer Beziehung zu anderen Arten der Lebensgemeinschaft und den Ressourcen der unbelebten Umwelt. Ökologische Nischen können sich ändern, etwa wenn sich die Umwelt durch geologische oder klimatische Ereignisse ändern; die dadurch angestoßenen Verschiebungen gelten als wichtige Triebkraft für die Evolution der Arten.

Biologische Vielfalt: Die Arten

Baustein der Lebensgemeinschaften sind die Arten. Arten sind für Biologen die grundlegende Einheit, in die sie Lebewesen einteilen. Auch Naturvölker teilten die Lebewesen in Gruppen ein, die eigene Namen bekamen und die oft den heutigen Arten entsprachen: eine Studie ergab kürzlich zum Beispiel, dass die Matses-Indianer im peruanischen Amazonasgebiet Fledermäuse ähnlich einteilen wie die moderne Wissenschaft. Die moderne Naturwissenschaft hat ihre Wurzeln bei Aristoteles, der alle Lebewesen der Welt katalogisieren wollte: ein bis heute unerfüllter Traum, aber er beschrieb etwa 500 Arten. Das heute verwendete System zur Beschreibung von Arten geht auf den Schweden Carl Linnaeus – 1761 zu Carl von Linné geadelt – zurück. Er führte 1753 die heute in der Wissenschaft übliche lateinische Doppelbenennung (“binäre Nomenklatur”) für die Arten ein.

Eine Art ist etwa die Weiße Seerose; ihr wissenschaftlicher Name ist Nymphaea alba L. (das “L.” steht für Linnaeus, der diese Art als erster beschrieb). Der erste Teil des Namens (Nymphaea) steht für die Gattung, der nächsthöheren Kategorie über den Arten. Die weitere Einordnung ist in der Tabelle unten dargestellt; die Blütenpflanzen gehören schließlich, wie etwa auch die Nadelbäume, zu den Samenpflanzen, die wiederum mit den Farn- und Moospflanzen das Reich der Pflanzen bilden; und die gehören mit Tieren und Pilzen zu den Eukaryoten – womit wir am Ende der Kette angekommen wären. (Eukaryoten, Lebewesen mit Zellkern, bilden gemeinsam mit Archaeen und Echten Bakterien die drei “Domänen”, zu denen alle Lebewesen gehören, siehe >> Die Entfaltung des Lebens.) Jedes Lebewesen kann auf diese Art in das System eingeordnet werden (siehe auch die >> Webtipps).

Domäne Eukaryoten
Reich Pflanzen
Abteilung Blütenpflanzen
Klasse Einfurchenpollen-Zweikeim- blättrige (Magnoliopsida)
Ordnung Seerosenartige (Nymphaeales)
Familie Seerosengewächse (Nymphaeaceae)
Gattung Seerosen (Nymphaea)
Art Nymphaea alba L.

Vieles von dem, was wir heute wissen, konnte Linnaeus noch nicht ahnen. Die Naturforscher begannen mit dem Erkennen und Benennen verschiedenartiger Lebewesen (Taxonomie); seit Charles Darwin entdeckte, dass die Lebewesen durch natürliche Prozesse entstanden sind (>> mehr), bemüht man sich, mit diesem System auch die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse abbilden ( Systematik). Heute helfen auch genetische Unterschiede bei einer genauen Einordnung. Grundlage hierfür sind Erbinformationen (>> Was ist Leben?) in Form der DNS. Diese Erbinformation ist weitgehend stabil – so stabil, dass sie noch heute belegt, dass alle Formen des Lebens auf der Erde miteinander verwandt sind. Im Laufe der Zeit aber kommt es aber doch zu Veränderungen: So entsteht >> genetische Vielfalt, und auf der Basis mehr oder weniger großer genetischer Ähnlichkeit können die Systematiker Verwandtschaften ablesen.

Aber allen modernen Technik zum Trotz: Das Erkennen einer Art ist nicht einfach. Eine Art gilt immer dann als bekannt, wenn eine kurze wissenschaftliche Beschreibung in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Dort steht dann auch, wo (meist in einem Museum) der “Typus” hinterlegt ist, der die Grundlage für die Beschreibung war. Ein Biologe, der etwa auf einer Expedition ein ihn unbekanntes Lebewesen findet, muss dieses mit den bisher bekannten Lebewesen vergleichen. Dieses ist nicht immer einfach: Vielleicht hat er einfach ein anders gefärbtes Jungtier einer längst bekannten Art gefunden, oder ein besonders mickrig gewachsenes Exemplar. Die richtige Einschätzung verlangt eine Menge Erfahrung, und dennoch kommen immer wieder Fehler vor – irgendwann entdeckt dann ein anderer Biologe, dass eine neue Art längst unter einem anderen Namen beschrieben war (es gilt dann der ältere Name; und der spätere Name wird, falls er schon gebräuchlich war, als Synonym geführt). Manchmal sind die Entscheidungen objektiv schwierig: Ist etwa die anders gefärbte Variante eines Vogels im Westen eines Kontinents eine lokale Variante oder eine eigene Art? An solchen Fragen schieden (und scheiden) sich oft die Geister; heute kann jedoch die Molekulargenetik oft Antworten geben.

Und bei der Systematik auf höherer Ebene gibt es noch viel unterschiedlichere Vorstellungen; so können die drei oben genannten Domänen (Archaeen, Echte Bakterien und Eukaryoten) als höchste Einheit gesehen werden, oder aber fünf Reiche: Bakterien (Prokaryoten, mit Archaeen und Echten Bakterien), Pilze, Pflanzen, Tiere und Protoctisten (ein Sammelbegriff für alle Eukaryoten, die nicht Pilze, Pflanzen oder Tiere sind – etwa die Algen). Das Problem ist, dass die Kategorien oberhalb der Art noch ungenauer zu definieren sind als diese, so dass die Zuordnung oftmals mehr oder weniger willkürlich ist. Daher gibt es Überlegungen, diese Kategorien ganz aufzugeben.

Wie auch immer: In der maßgeblichen und bis heute als Basis für die Benennung geltenden zehnten Auflage seiner „Systema Naturae“ von 1758 hat Linnaeus 4387 Arten beschrieben; heute wird die Anzahl der wissenschaftlich beschriebenen Arten auf 1,75 Millionen geschätzt – geschätzt, denn ein zentrales Register der Arten befindet sich erst im Aufbau. Die bisher beschriebenen Arten sind aber wohl nur ein kleiner Teil aller vorkommenden Arten (siehe Kasten).

Wie viele Arten gibt es auf der Erde?

Im Computerzeitalter und angesichts anderer Projekte wie zentraler DNS-Sequenz- Datenbanken mag es unglaublich erscheinen, aber eine Datenbank, die Arten, die Grundlage der biologischen Vielfalt auf der Erde (und der DNS-Sequenzen), erfasst, befindet sich erst seit dem Jahr 2007 im Aufbau. Noch unglaublicher: Die Anzahl der Arten ist völlig unbekannt. Sie wird – je nach Methode – auf drei bis 100 Millionen geschätzt, wobei der Mittelwert der Schätzungen bei 10 bis 20 Millionen Arten liegt. Diese Unsicherheit liegt zum einen daran, dass viele Arten sehr klein sind: Die Ozeane und das Land etwa wimmeln nur so von noch unbekannten Bakterien, Archaeen und Protisten. Dabei können sie eine bedeutende Rolle bei der oben beschriebenen Erhaltung der Energie- und Stoffkreisläufe spielen: Bakterien der Gattung Prochlorococcus produzieren einen Großteil der Biomasse im Meer – und sind der Wissenschaft erst seit 1988 überhaupt bekannt. Im Jahr 2007 wurden winzige Eukaryoten entdeckt, die in kalten Küstenmeeren reichlich vorkommen, die “Picobiliphyta” – ihre Verwandtschaft zu anderen Lebewesen ist noch völlig ungeklärt. In Norwegen wurden zwei Proben von je 1 Gramm Waldboden und Küstensediment untersucht: beide enthielten etwa 5000 voneinander verschiedene und unbekannte Bakterienarten.

Aber selbst ohne die winzigen Bakterien wissen wir wenig: Auch heute noch sind große Gebiete der Erde nur für die auffälligsten Arten einigermaßen erforscht. Dazu gehören die Böden. Möglicherweise sind vier Fünftel aller Tierarten auf der Erde Fadenwürmer, die eine wichtige Rolle beim Abbau organischer Stoffe im Boden spielen. Aber erst etwa 15.000 Arten sind beschreiben. Ähnlich ist es bei den Pilzen: Zwar sind hier 100.000 Arten beschreiben, aber vermutlich gibt es 1,5 Millionen Arten. Zu den unerforschten Lebensräumen gehören auch die tropischen Regenwälder. Dass hier über die Hälfte aller Arten vorkommen, ist daher eine Hochrechnung aus den wenigen genauen Untersuchungen. Der Biologe Edward O. Wilson, ein Ameisenspezialist, schätzt, dass die Zahl der bekannten Ameisenarten (ca. 10.000) leicht verdoppelt werden kann, wenn erst die tropischen Gebiete genauer erforscht sind. Er selbst hat unter dem Krondach eines einzigen Baumes in Peru 43 Ameisenarten identifiziert; etwa so viele, wie auf den gesamten Britischen Inseln vorkommen. Berühmt unter Biologen ist die Untersuchung des Biologen Terry Erwin, der die Krone von Bäumen im Regenwald mit Insektizid besprühte, die herabgefallenen Tiere untersuchte und dann die Anzahl alleine der Insektenarten auf 30 Millionen schätzte. Diese Hochrechnung ist naturgemäß umstritten – von ein paar Bäumen auf die ganze Welt hochzurechnen muss ungenau sein. Andere Forscher rechnen daher mit “nur” 8 Millionen Insektenarten. Zu den unerforschten Lebensräumen gehört auch die >> Tiefsee, wo ebenfalls Millionen unbekannte Arten vermutet werden.

Aber selbst von den hervorragend erforschten Blütenpflanzen werden jedes Jahr noch ca. 2.000 neue Arten entdeckt! Die Welt der lebenden Organismen ist also, global gesehen und vor allem unter Berücksichtigung der Mikroorganismen, noch weitgehend unbekannt. Angesichts der enormen Bedeutung, die die Biosphäre als Grundlage unseres Lebens hat, ist dies eigentlich ein Skandal.

Die unbekannte Vielfalt der Arten

Grafik, die zeigt, wie groß der Anteil bereits beschriebener an der vermuteten Gesamtzahl der Arten bei ausgewählten Gruppen ist

Schätzung des Anteils der bereits beschriebenen (der Wissenschaft bekannten) Arten an der gesamten Artenzahl für verschiedene Gruppen von Lebewesen. Abb. aus Millennium Ecosystem Assessment: Biodiversity Synthesis, eigene Übersetzung.

Biologische Vielfalt: Genetische Vielfalt/Populationen

Arten sind aber keineswegs der einzige Ausdruck der biologischen Vielfalt auf der Erde: So wie jeder Mensch sich von anderen Menschen unterscheidet, so sind auch die anderen Lebewesen jeweils einzigartig. Grundlage dieser Unterschiede ist eine jeweils einzigartige Ausstattung mit Erbanlagen: Dieser Aspekt wird als genetische Vielfalt innerhalb einer Art bezeichnet. Genetische Vielfalt ist die Grundlage der >> Evolution. Sie gilt auch als Voraussetzung dafür, dass Lebewesen sich an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen können. Wenn die Anzahl der Individuen einer Art zurückgeht, nehmen oftmals auch die genetische Vielfalt und damit die Zukunftschancen einer Art ab. Daher ist bereits der Rückgang der Individuenzahl ein Warnsignal für den Verlust an biologischer Vielfalt.

Ein weiteres Kriterium ist die Anzahl an Populationen: Unter Population verstehen die Biologen Individuen, die ein gemeinsames Verbreitungsgebiet haben. Arten können ein großes, gemeinsames Verbreitungsgebiet haben oder aber mehrere nicht zusammenhängende Verbreitungsgebiete – gerade in solchen Gebieten findet sich oftmals ein großer Teil der genetischen Vielfalt; der Verlust an Populationen kann daher ebenfalls mit einem Rückgang der genetischen Vielfalt verbunden sein.

Biologische Vielfalt und Ökosysteme

Biologische Vielfalt und Ökosysteme (siehe die Darstellung der >> großen Ökosysteme der Erde) sind untrennbar miteinander verknüpft: Einerseits sind die verschiedenen Ökosysteme Grundlage für die in ihnen vorkommende biologische Vielfalt, andererseits ist die biologische Vielfalt Basis für viele Dienstleistungen der Ökosysteme.

Die Ökosysteme sind zum einen die Umwelt, an die Lebewesen sich anpassen müssen; und eine große Verschiedenheit von Ökosystemen führt auch zu großer biologischer Vielfalt – in einer Wüste leben andere Organismen als in einem See. Andererseits tragen die Lebewesen zu den Dienstleistungen des Ökosystems bei: Es sind die Bäume, die die Kraft der herabfallenden Regens brechen und so den Boden vor Erosion schützen, es sind Moose, die Wasser speichern und so dazu beitragen, dass Wälder die Wasserversorgung stabilisieren. Die Funktionen der Ökosysteme und die biologische Vielfalt beeinflussen sich also gegenseitig. Um die biologische Vielfalt zu erhalten, muss daher auch die Vielfalt der Ökosysteme erhalten bleiben – wobei die biologische Vielfalt wiederum die Widerstandskraft der Ökosysteme gegen Veränderungen ausmacht.

Welchen Wert hat die biologische Vielfalt?

Wir Menschen sind Bestandteil und eingebettet in die Ökosysteme der Erde: Wir leben von den verschiedenen Dienstleistungen, die diese uns zur Verfügung stellen – saubere Luft, frisches Wasser, Boden und Nährstoffe für die Erzeugung unserer Nahrung, organische Rohstoffe für unsere Wirtschaft... Wie jedes Tier ernähren wir Menschen uns von anderen Lebewesen; im Unterschied zu den Tieren sind die Ökosysteme auch Bestandteil unserer Kultur: Sie lieferten schon den Steinzeitjägern Kleidung in Form von Fellen und Behausung, etwa Häuser aus Mammutzähnen und -fellen. Und noch heute stammt ein guter Teil unserer Kleidung aus Naturstoffen wie Baumwolle, Leinen oder Leder. Seit jeher nutzten Menschen Arzneipflanzen; manche sind auch heute noch unverzichtbar, andere lieferten die Inspiration für Medikamente (zum Beispiel stammt Salicylsäure, der Wirkstoff in Aspirin, ursprünglich aus der Rinde von Weiden). Die >> Industrielle Revolution beruhte auf der Nutzung des fossilen Brennstoffs Kohle – entstanden über die Jahrtausende aus Pflanzen. Heute liefert die Natur Ideen für technische Erfindungen – die bekannteste ist der Klettverschluss, abgeguckt von der Klette.

Diese Dienstleistungen der Ökosysteme entstehen durch die vielfältigen Wechselwirkungen der Organismen in den Ökosystemen –  sie sind unser Naturkapital. Ähnlich wie in ökonomischen System sichert Vielfalt die Leistungsfähigkeit dieses Kapitals. Man kann Arten als das gespeicherte “Wissen der Evolution” ansehen; Wissen, von dem wir schon oft profitiert haben: So gingen alle unsere Nutzpflanzen und -tiere aus den genetischen Anlagen ihrer wilden Vorläufer hervor, und diese stellen eine genetische Ressource etwa beim Auftreten neuartiger Krankheitserreger dar. Ebenso mag noch so manche unerkannte Arznei in unerforschten oder gar unbekannten Organismen schlummern.

Daneben hat die biologische Vielfalt auch einen Wert an sich. Naturerleben kann erholsam sein und einen Wert für Lebensqualität und Ästhetik haben; nicht umsonst verbringen viele Menschen gerne einen Teil ihrer Freizeit in der Natur. Der “Vater der Biodiversität”, der amerikanische Biologe Edward Wilson, hält die Liebe zur Natur geradezu für angeboren, dargestellt in seinem Buch “Biophilia”. Diese Neigung kann sich natürlich auch durch indirektes Naturerleben ausdrücken, so sind Naturfilme anhaltend beliebt. (Für Bücherleser ein persönlicher Tipp: Lesen Sie einmal ein Buch von Peter Matthiessen – etwa sein “Die Könige der Lüfte” über Kraniche –  und sie verstehen, was gemeint ist.)

Siehe auch: >> Warum uns die biologische Vielfalt interessieren muss

Die Verteilung der Vielfalt

Auch wenn die Entfaltung des Lebens immer wieder von >> Rückschlägen geprägt war, führte sie letztendlich zu >> zunehmender Vielfalt. Die so entstandene Vielfalt ist nicht gleichmäßig über die Erde verteilt, und es gibt deutliche Unterschiede zwischen Land und Meer. Auf dem Festland leben 78 Prozent der bekannten Arten. Die Verteilung ist aber von der geografischen Breite abhängig: an den Polen ist die biologische Vielfalt am niedrigsten, in den Tropen am höchsten (Fachleute nennen das "Breitengradient des Artenreichtums"). Die artenreichsten Lebensräume des Festlands sind die >> tropischen Regenwälder; sie nehmen etwa 1/16 der Landoberfläche ein, beherbergen aber über die Hälfte aller Arten. Warum das so ist, wissen wir nicht – viele Theorien versuchen, den Breitengradienten zu erklären.

Eine verbreitete Theorie glaubt, dass das höhere Alter der Lebensräume in den niedrigen Breiten, die in den letzten 2,6 Millionen Jahren weniger als in höheren Breiten von den >>  Eiszeiten des Pleistozän gestört wurden, die Ursache ist – die biologischen Vielfalt in den Regionen mit Eiszeiten geht zum großen Teil auf Arten zurück, die nach den Eiszeiten wieder einwandern mussten. Andere Theorien vermuten, dass in den Tropen aufgrund der schnelleren Generationenfolge und/oder der höheren Sonneneinstrahlung eine höhere Evolutionsrate zur schnelleren Artenbildung führt; oder dass die an vergleichsweise weniger schwankende Temperaturen gewöhnten Organismen niedriger Breiten empfindlicher und daher höher spezialisiert sind, was wiederum die Artenbildung fördert. Diesen Theorien ist gemein, dass die Ursache des Breitengradienten in einer erhöhten Artenbildung (nicht etwa einer geringeren Aussterberate) gesehen wird. Als wichtigster Mechanismus der Artbildung gilt die geografische Artbildung: Populationen, die räumlich getrennt werden, entwickeln sich unterschiedlich weiter, so dass schließlich getrennte Arten entstehen. Die hohe Spezialisierung führt dazu, dass etwa Bergpässe für manche Organismen schon unüberwindliche Hindernisse darstellen. (Die Spezialisierung führt auch dazu, dass diese Arten bei Änderungen des Lebensraums besonders empfindlich reagieren, zumal hohe Spezialisierung mit geringerer Populationsdichte einhergeht; eine Aspekt, der die Auswirkungen des >> Klimawandels in den Tropen verstärken könnte.) Auch die Vergangenheit könnte eine Rolle spielen: In den Tropenwäldern, so eine Theorie, wurden während der Eiszeiten des Pleistozän die  Wälder mehrfach zurückgedrängt und bildeten kleinere, voneinander isolierte Bestände – in diesen könnten sich Populationen ebenfalls unterschiedlich entwickelt haben und neue Arten entstanden sein. Die biologische Vielfalt hängt aber nicht alleine von der geografischen Breite ab –  auch innerhalb der Tropen etwa gibt es große Unterschiede. Manche Gebiete sind besonders artenreich, und in diesen Gebieten kommen auch besonders viele Arten vor, die nur dort vorkommen (sogenannte Endemiten). Diese Gebiete scheinen die Zentren der Artentstehung zu sein – warum dies so ist, darüber gibt es viele Ideen, aber keine allgemein akzeptierte Theorie.

Im >> Meer sieht die Vielfalt anders aus als an Land: Trotzt der größeren Fläche findet man hier weniger Arten (etwa 15 % der bekannten Arten; was nur zum Teil mit der schlechteren Kenntnis zu tun hat), aber eine größere Vielfalt auf höherer systematischer Ebene: Alle 36 bekannten Tierstämme kommen im Meer vor, aber nur 12 an Land. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass das Leben im Meer entstanden ist, und nicht alle Stämme den Übergang an Land geschafft haben. Aber auch sonst sind die Lebensräume im Meer ganz anders als an Land: In den artenreichsten Land-Ökosystemen, den tropischen Regenwäldern, sind Tiere eher unauffällig, während ihr Gegenstück in den Meeren, die >> Korallenriffe, vor bunten tierischem Leben nur so wimmeln. Warum dies so ist, kann niemand sagen.

Fünf Prozent aller bekannten Arten leben außerdem als Parasiten oder Symbionten in anderen Lebewesen (Parasiten leben von ihren Wirtsorganismen, während Symbiose ein Zusammenleben zum beiderseitigen Vorteil ist).

Webtipps

>> Tree of Life –  Darstellung des “Stammbaums des Lebens” und der    Verwandtschaftsverhältnisses aller Lebewesen mit Nennung der zugrundeliegenden    Informationsquellen

>> Encyclopedia of Life –  Enzyklopädie, in der sämtliche Arten der Erde beschrieben    werden sollen (englischsprachig)

>> Botanik online: Methoden und Regeln zur Klassifikation der Pflanzen

Zum Thema Biodiversität siehe auch:
>> Das große Aussterben – die Vielfalt des Lebens geht verloren

Weiter mit:
>> Ökosystem Erde

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© Jürgen Paeger 2006 – 2020

Extremophile werden Arten genannt, die extreme Lebensräume mögen (latein. extremum = das Äußerste, griech. philos = Freund); etwa sehr heiße, kalte, saure oder salzige Lebensräume.

Carl von Linné
Gemälde, das Carl von Linné darstellterdachte die noch heute übliche zweiteilige lateinische Bezeichnung der Arten in seinem 1753 erschienenen Species plantarum. Startpunkt für die Benennung der Tierarten ist die 10. Auflage seiner Systema naturae aus dem Jahr 1758.
(Gemälde von J.H. Scheffel 1739, Abb. aus wikipedia, >> Carl Linnaeus.jpg)