Das Zeitalter der Industrie
Eine kleine Geschichte der Atomkraft
Das Atomkraftwerk Cattenom (Frankreich). Foto: Stefan Kühn, aus wikipedia (abgerufen 30.1.2008), Lizenz >> GNU FDL
Der wissenschaftliche Hintergrund
Die Entdeckung des Atoms
Das griechische Wort “Atom” wurde im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit vom griechischen Gelehrten Demokrit geprägt. Altgriechisch átomos bedeutet unteilbar – Demokrit bezeichnete so die kleinsten Teilchen, aus denen nach seiner Vorstellung die Welt bestehen sollte. Demokrits Idee setzte sich zunächst nicht durch, die antike Welt glaubte mit Empedokles an die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser. Aber als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Chemiker feststellten, dass bei chemischen Reaktionen immer konstante Mengenverhältnisse vorkamen, belebte der englische Naturforscher John Dalton Demokrits Idee wieder. Die Idee des Atoms blieb aber umstritten (seine Existenz wurde erst 1905 durch Albert Einstein nachgewiesen). 1897 entdeckte der englische Physiker Joseph John Thomson, dass die Kathodenstrahlung aus geladenen Teilchen besteht, die aus den Atomen kommen; das Wort “Atom” war also eigentlich falsch: Auch Atome bestanden aus verschiedenen Teilen. Thomsons Teilchen wurde Elektron genannt. (Thomson erklärte auch den elektrischen Strom als Fluss von Elektronen und bekam dafür 1906 den Nobelpreis.)
Die Entdeckung der Radioaktivität
Bereits ein Jahr vor Thomson Entdeckung, 1896, hatte der französische Physiker Henri Becquerel Uransalz auf eine Fotoplatte gelegt – und musste feststellen, dass sich die Platte geschwärzt hatte. Das Uransalz gab also eine Art Strahlung ab, und Becquerel setzte eine Doktorandin auf dieses Phänomen an. Diese, die Polin Marie Curie, taufte das Phänomen “Radioaktivität” und entdeckte gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Curie weitere radioaktive Elemente. (Becquerel, Marie und Pierre Curie erhielten für die Erforschung der Radioaktivität 1903 den Nobelpreis; Marie Curie war ab 1906 die erste Frau, die an der Sorbonne lehrte.) Der damals in Montreal arbeitende neuseeländische Physiker Ernest Rutherford und andere entdeckten, dass es verschiedene Arten von radioaktiver Strahlung gab, die Rutherford 1903 Alpha-, Beta- und Gammastrahlung nannte. Er entwickelte mit seinem Kollegen Frederick Soddy die These, dass die Radioaktivität mit der Umwandlung von Atomen verknüpft sei. Und nach Einsteins Entdeckung der Austauschbarkeit von Materie und Energie (E = mc², >> mehr) ahnte man auch, dass bei diesen Umwandlungen viel Energie im Spiel war. Marie Curies Tochter Irène Joliot-Curie und deren Mann Frédéric Joliot-Curie entdeckten 1933/34, dass man radioaktive Stoffe auch künstlich durch Bestrahlung mit Alpha-Teilchen herstellen konnte.
Die Erforschung des Atoms
1911 entdeckte Rutherford, dass das Atom aus Kern und Hülle zusammengesetzt ist, und entwickelte ein Atommodell, bei dem die positiven Ladungen im Kern konzentriert waren, und die Hülle von den Elektronen gebildet wurden. Dieses Modell konnte jedoch nicht alle beobachteten Eigenschaften von Elementen erklären, etwa die Spektrallinien von Wasserstoff. Diese Erklärung gelang seinem Schüler Niels Bohr mit einem Atommodell, bei dem sich die Elektronen nur auf festen Umlaufbahnen bewegten. Sie konnten von einer erlaubten Bahn auf die andere “springen” (dies ist der berühmte “Quantensprung”), was die Spektrallinien erklärte. (Und war der Beginn der Erkenntnis des “merkwürdigen” Verhaltens von Materie im kleinsten Maßstab – die Elektronen gelangen von einer auf die andere ohne im Raum dazwischen aufzutauchen.)
Rutherford gelang es 1919, durch Bestrahlung mit Alphateilchen ein Element in ein anderes zu verwandeln – Stickstoff in Sauerstoff. Und er glaubte, dass es im Atomkern neben den positiv geladenen Teilchen – die aufgrund der Abstoßung auseinanderfliegen müssten – als eine Art Klebstoff neutrale Teilchen geben müsse, die er Neutronen nannte. Sie wurden
Der
prinzipielle Aufbau eines Atoms: Der Kern besteht aus
positiv geladenen Protonen (hier rot) und ungeladenen Neutronen
(hier grün), die Hülle aus negativ geladenen Elektronen (hier geb).
Abb. >> wikipedia,
Lizenz >> GNU
FDL.
1932 von Rutherfords Mitarbeiter James Chadwick nachgewiesen. Damit war das Bild des Atoms bekannt, dass im Prinzip auch heute noch gilt (Abbildung rechts).
Die Spaltung des Atoms
Mit der Entdeckung des Neutrons wurde klar, dass man Elemente auch auf andere Art verwandeln kann, als es Rutherford 1919 getan hatte: So versuchte der italienische Physiker Enrico Fermi, Uranatome durch das Einbringen von Neutronen zu verändern. Dabei spaltete er die Atomkerne, ohne dies jedoch zu merken. Die Versuche wurden von Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann in Berlin fortgeführt, und Otto Hahn und Fritz Straßmann fanden 1938, angeregt von Arbeiten von Irène Joliot-Curie, Barium in einer bestrahlten Uranprobe – woraus sie schlossen, dass der Urankern “zerplatzt” sein müsse. Die österreichische Jüdin Lise Meitner war wenige Monate zuvor, nach dem “Anschluss” Österreichs, mit dem die Rassengesetze des Dritten Reichs auf sie anwendbar wurden, mit Hahns Hilfe nach Schweden emigriert. Als Hahn ihr sein Ergebnis mitteilte, erkannte sie (gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch) die physikalische Bedeutung: Hahn und Straßmann hatten die Kernspaltung entdeckt, bei der eine (für die winzige Uranmenge) große Energiemenge freigesetzt wurde.
Die Atombombe
Atomare Kettenreaktion: Bei
der Spaltung von Uran-235 werden 2-3 Neutronen frei, die weitere
Uran-235-Atome spalten können. (Der gelbe Stern symbolisiert die
freiwerdende Energie.) Abb. >>
wikipedia, Lizenz >> cc
2.5.
Diese große Energiemenge konnte nur dann praktisch genutzt werden, wenn bei der Spaltung eines Urankerns mehrere Neutronen frei würden, die ihrerseits weitere Atomkerne spalteten, und in einer “Kettenreaktion” eine Art Lawineneffekt auslösten (siehe Abbildung).
Die meisten Physiker glaubten, dass eine solche praktische Nutzung der Atomenergie nicht möglich sei. Manche hatten aber Angst: Wie konnte es sein, dass Hitler die Großmächte herausforderte? Glaubte er vielleicht, bald eine Uranbombe zu haben? Dann wäre er tatsächlich fast unbesiegbar... Durch Versuche des Ungarn Leo Szilard und von Joliot-Curie in Paris deutete sich bald an, dass eine Kettenreaktion tatsächlich möglich war. Viele Atomphysiker, darunter vor allem jene, die wie Leo Szilard, Edmund Teller oder Enrico Fermi aus Europa emigriert waren, warnten Präsident Roosevelt vor einer deutschen Atombombe. 1942 einigten sich dann Churchill und Roosevelt auf ein gemeinsames Projekt zur Atomforschung, unter dem Decknamen “Manhattan-Project”. Die erste atomare Kettenreaktion war 1942 Enrico Fermi in einer umgebauten Squash-Halle der Universität Chicago gelungen. Fermi entdeckte auch, dass Neutronen umso eher eine Spaltung auslösen, je langsamer sie sind. Die Arbeiten des “Manhattan-Project” führten 1945 zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki (mehr: >> Eine kleine Geschichte der Atombombe).
Nach dem Krieg herrschte unter dem Eindruck dieser Bomben zunächst das Bestreben vor, die Verbreitung von Atomwaffen und -technologie zu verhindern; die Forschung diente zumeist militärischen Zwecken und wurde geheim gehalten. Aber einige Wissenschaftler dachten auch über eine zivile Nutzung der neuen Energiequelle nach. Manche dachten dabei an eine "friedliche" Nutzung der Atombombe für Projekte, die aus heutiger Sicht die damalige Technikeuphorie zeigen – der britische Biologe Julian Huxley, Bruder des Schriftstellers Aldous Huxley und UNESCO-Generaldirektor, wollte wie der russische Ölingenieur Petr Borisow mit Atombomben die Polkappen abzuschmelzen, um eine angenehmeres Weltklima zu schaffen; Manager amerikanischer Ölfirmen wollten mit Atombomben das Öl aus kanadischen Teersanden lösen. Realistischere Geister dachten an Atomkraftwerke: Um aus einer Atombombe ein Atomkraftwerk zu machen, muss die Kettenreaktion kontrolliert werden, indem überzählige Neutronen abgefangen werden. Die Leistung des Reaktors bleibt gleich, wenn pro Kernspaltung genau ein Neutron überbleibt, das eine weitere Kernspaltung auslöst. Diese Aufgabe übernehmen in heutigen Atomkraftwerken die “Steuerstäbe”, die zwischen das in “Brennstäben” zusammenfasste spaltbare Material geschoben werden.
Atome für den Frieden
1953 erkannten die Amerikaner, dass die Öffentlichkeit eine weitere Atomforschung nicht akzeptieren würde, wenn sie nicht auch Vorteile im täglichen Leben versprechen würde: Daher präsentierte US-Präsiden Dwight D. Eisenhower auf einer UN-Vollversammlung unter dem Titel Atoms for Peace seine Vision einer friedlichen Nutzung der Atomenergie unter dem Dach einer Internationalen Atomenergie-Behörde (1957 nahm diese Behörde, die Internationale Atomenergieorganisation IAEO, die Arbeit auf). 1954 ging in der Sowjetunion, in der Wissenschaftsstadt Obninsk, der erste Atomreaktor zur Stromerzeugung ans Netz – er lieferte 5 Megawatt elektrische Leistung. Im Westen blieb dies weitgehend unbemerkt, hier war ein 1956 im englischen Calder Hall in Betrieb gehender Reaktor mit 50 Megawatt elektrischer Leistung der erste. Die Entwicklung von Atomreaktoren in den USA profitierte von den Anstrengungen der US-Marine, Atomreaktoren für den Antrieb von U-Booten zu entwickeln. Die Tauchfähigkeit von U-Booten war durch die Batterien der Triebwerke begrenzt, Atomreaktoren konnten ihnen eine nahezu unbegrenzte Einsatzfähigkeit ermöglichen. Unter Leitung von Admiral Hyman Rickover wurde 1955 das erste atomare U-Boot, die USS Nautilus, in Dienst gestellt; die US-Marine hat heute mehr Atomreaktoren betrieben als jede andere Institution der Welt. Das erste zivile amerikanische Atomkraftwerk, das 1958 in Shippingport (25 Meilen von Pittsburgh) mit 60 Megawatt elektrischer Leistung ans Netz ging, war ursprünglich als Antrieb für einen Flugzeugträger geplant gewesen; dieser fiel einem Sparprogramm von Eisenhower zum Opfer. Die von der Marine entwickelten Leichtwasserreaktoren (bei denen normales Wasser die bei der Atomspaltung freiwerdenden Neutronen bremste und die entstehende Wärme zu einer der Stromerzeugung dienenden Dampfturbine transportierte) sollten sich – auch dank großzügiger Exportförderung – auf dem Weltmarkt durchsetzen. (England und Frankreich setzen zunächst auf die in Calder Hall genutzte Gas-Graphit-Technik, bei der Graphit die Neutronen bremste und Kohlendioxid die Wärme transportierte; 1967 gaben sie diese Technik auf.)
Die private Industrie blieb anfänglich sehr zurückhaltend. Schon bei den militärischen Aufträgen hatten Unternehmen wie General Electric und Westinghouse wegen der “ungewöhnlichen, unvorhersehbaren Risiken” auf voller staatlicher Haftung – selbst bei eigener Fahrlässigkeit – bestanden. Diese forderte sie auch für zivile Atomprojekte. Aber der Schutz einer Industrie selbst vor eigenen Fehlern in unbegrenzter Höhe war dem Steuerzahlern kaum zumutbar, und so wurde schließlich eine staatliche Haftung von bis zu 500 Millionen Dollar festgelegt, und in den 1960er Jahren begann der Aufschwung der Atomenergie. Die großen Elektrokonzerne stiegen jetzt in den Bau von Atomkraftwerken ein; in den USA machten General Electric, Westinghouse und bald darauf auch Babcock & Wilcox und Combustion Engineering Festpreisangebote für schlüsselfertige Atomreaktoren. Das erste deutsche Atomkraftwerk Kahl ging 1961 ans Netz und wurde von Siemens mit Reaktortechnik von General Electric gebaut. Die Zukunft der Atomenergie schien vor allem nach den Ölkrisen von 1973 und 1979 glänzend – sie galt als Schutz der nationalen Unabhängigkeit und sollte das Wirtschaftswachstum auch beim Ende der fossilen Energien sicherstellen. Die installierte Leistung stieg bis in die späten 1970er Jahre auf 100.000 Megawatt; Deutschland verkaufte Atomkraftwerke selbst an Militärdiktaturen wie den Iran, Argentinien und Brasilien (und scheitere beim Versuch, Atomkraftwerke an den Iran zu verkaufen, an der französischen Konkurrenz). (Die nationalen Unabhängigkeit wurde mit der Atomenergie dagegen kaum gefördert: das benötigte angereicherte Uran kam bis 1973 vor allem aus den USA, danach – weil die USA ihre Lieferbedingungen verschärften – aus Südafrika und Namibien. Die Regierung bemühte sich zudem um Lieferungen aus der Sowjetunion.)
Kapazität der Atomkraftwerke weltweit seit 1955, seit 1991 auch die tatsächlich verfügbare Leistung unter Berücksichtigung geplanter und ungeplanter Stillstände. (Die Einheit Gigawatt steht für Milliarden Watt.) Abb. von Robert A. Rohde, >> Global Warming Art aus Daten der IAEO; eigene Übersetzung. Lizenz: >> cc 2.5.
Ein Jumbo ohne Landebahn
Bald stellte sich heraus, dass es so einfach nicht war: Atomreaktoren waren nicht, wie von der Industrie oft dargestellt, einfach ein neues System zur Erzeugung von heißem Wasser. Sie waren in ein komplexes System eingebunden: Uran musste geliefert werden, in Aufbereitungsanlagen angereichert und betriebsfertig gemacht werden, die abgebrannten Brennelemente mussten weiterbehandelt und beseitigt werden. Dieses System gab es aber nicht. Die Harvard Business School beschrieb in ihrem “Energy Report” von 1979 die Situation: Es war, als habe man einem unterentwickelten Land eine moderne Luftflotte verkauft, aber keine Flughäfen und keine Luftverkehrsüberwachung. Damit waren aber die versprochenen niedrigeren Stromkosten durch die Atomenergie eine bloße Annahme, und bald stellte sich heraus, dass die Kosten viel höher lagen als angenommen; die amerikanische Atomenergiekommission bezeichnete die Kostenentwicklung als “traumatisch”. Die Atomindustrie versuchte, das Problem durch die economies of scale (niedrigere Kosten bei größeren Betrieben) zu lösen; sie bot immer größere Anlagen an.
Der Widerstand gegen die Atomenergie
Die
lachende Sonne (®) ist das Symbol der Atomkraftgegner.
Währenddessen waren die Warnungen vor der Atomenergie nie verstummt. Immerhin wurden hier große Mengen Radioaktivität erzeugt, deren schreckliche Wirkung durch die Folgen der Atombombenabwürfe weltweit bekannt geworden war. Regierungen und Atomindustrie versuchten, die Zweifler an der Sicherheit der Atomenergie als irregeleitete Zeitgenossen darzustellen. Aber immer wieder kam es an den ausgewählten Standorten für neue Atomanlagen zu Protesten der Bevölkerung; und immer fanden sich aus Wissenschaftler, die andere Ansichten als Regierung und Atomindustrie vertraten. In den USA waren dies etwa John Gofman und Arthur Tamplin, die als Mitarbeiter der Atomic Energy Commission (AEC) die Krebsgefahren durch niedrige Dosen radioaktiver Strahlung untersucht hatten; hier entstand auch die >> Union of Concerned Scientists (die “Vereinigung besorgter Wissenschaftler”), die den Atomkraftgegnern viele Argumente lieferte. Neben der Krebsgefahr bezogen sich diese auch auf die Möglichkeiten eines unbeherrschbaren Unfalls, eines "Super-GAU" (GAU steht für "größter anzunehmender Unfall", für den die Sicherheitssysteme ausgelegt waren; als Super-GAU wurden Unfälle bezeichnet, die als höchst unwahrscheinlich galten – 1976 berechnete eine Reaktorsicherheitsstudie der US-Atomenergiebehörde, dass ein Super-GAU beim Betrieb von einhundert Reaktoren einmal in 10 Millionen Jahren auftrete – und für die daher die Sicherheitssysteme nicht mehr ausgelegt waren.) In Europa hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung 1958 mit der Gründung des konservativen "Weltbund zum Schutz des Lebens" begonnen; zur Volksbewegung wurde sich mit den Demonstrationen im elsässischen Fessenheim 1971 und der davon inspirierten Besetzung des Bauplatzes für ein Atomkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl im Jahr 1975. Auch hier unterstützten atomkritische Wissenschaftler die Bewohner (aus dieser Unterstützung sollte das >> Öko-Institut in Freiburg hervorgehen. Zu den Winzern und Bauern, die den Protest anfänglich getragen hatten, kamen Freiburger Studenten und alternative Gewerkschafter wie die "Plakatgruppe" bei Daimer-Benz um Willi Hoss hinzu.
Der Bau in Wyhl wurde erst mehrfach verschoben und schließlich aufgegeben. Der zuvor überwiegend konservative Protest gegen die Atomkraft hatte längst auch studentenbewegte Kreise erreicht, die ihre Demonstrations- und Aktionsformen in die Anti-Atom-Bewegung einbrachten. Dies förderte die Konfliktbereitschaft der Bewegung, war aber nicht immer gewaltfrei: die gut organisierten maoistischen „K-Gruppen“ sollten ihren Anteil daran haben, dass bei mancher Demonstration an Bauplätzen wie Brokdorf oder Grohnde bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Das war nicht nur in Deutschland so, auch in den USA (Seabrook) und Frankreich (Malville) gab es blutige Auseinandersetzungen um die Atomkraft. 1978 beschlossen Bundes- und niedersächsische Landesregierung den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage und eines Endlagers für Atommüll im niedersächsischen Gorleben. Auch hier kam es sofort zu Widerstand, und 1978 erreichte die "Grüne Liste Umweltschutz" 3,9 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl (1979 kam in Bremen – nach dem Atomunfall bei Harrisburg – eine Grüne Liste erstmals in ein Parlament).
Der Atomunfall bei Harrisburg
Bereits 1957 war es zu zwei schweren Atomunfällen in militärischen Anlagen gekommen [2440], die aber geheim gehalten wurden. Ein ernster Unfall in einem zivilen Atomkraftwerk hatte sich am 22. März 1975 ereignet, als ein Techniker bei der Kontrolle von Kabelschächten im Atomkraftwerk Browns Ferry im US-Bundesstaat Alabama mit einer Kerze die Polyurethan-Isolierung in Brand setzte: der dadurch ausgelöste und zunächst unbemerkte Kabelbrand legte sowohl die Kühlwasserpumpen als auch das Notkühlsystem in Block 1 lahm. Die aus dem weiteren Zerfall spaltbarer Produkte resultierende “Nachwärme” konnte aber durch hierfür eigentlich nicht vorgesehene Kondensatpumpen abgeführt werden, so dass dieser Unfall keine Folgen für die Außenwelt hatte (wohl aber für den Betreiber: der beim Brand nicht einmal ein Jahr alte Block ging erst 2007 nach einer Generalüberholung für 1,8 Milliarden Dollar wieder ans Netz). Unfälle in den USA interessierten auch in Deutschland, wo die ersten Reaktoren ja auf amerikanischer Technik beruhten. Auch in Deutschland kam es zu in den Atomkraftwerken zu zahlreichen kleineren Unfällen, 1977 musste Block A des Atomkraftwerks Gundremmingen nach einem Störfall stillgelegt werden und ein Bericht der Bundesregierung berichtete von 14 Zwischenfällen im Jahr 1976 – in Wirklichkeit waren es 139 [2442].
Am 28. März 1979 fielen aus nie ermittelten Gründen im Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (Pennsylvania, USA) die beiden Kühlwasserpumpen zur Kühlung des Reaktorkerns aus. Da hierdurch die Hitze aus dem Reaktorkern nicht mehr abgeführt wurde, stiegen Temperatur und Druck, was eine Notabschaltung auslöste. Die “Nachwärme” (siehe oben) führt in einem Druckwasserreaktor wie in Three Mile Island zu einem Druckanstieg im Primärkreislauf; und um einen möglichen Leitungsbruch zu verhindern, öffnet sich ein in einem solchen Fall ein Notventil. Dieses hätte nach dem Druckabfall wieder schließen sollen, das geschah unbemerkt von der Belegschaft aber nicht. So entwichen etwa 150.000 Liter radioaktiven Wassers in das Reaktorgebäude – dies wurde aber erst später bemerkt, als der Abwassertank barst und eine Schmutzwasserpumpe einen Teil des verseuchten Wasser in ein Nebengebäude pumpte. Da im Notkühlsystem nach einem Test zwei Ventile geschlossen worden waren, hatte dieses nicht sofort funktioniert, sondern erst nach acht Minuten, als der Fehler bemerkt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war aufgrund der Hitze aber bereits eine Dampfblase im Reaktorkern entstanden, die aufgrund von unzulänglichen Messinstrumenten das Bedienpersonal – das von dem offenen Notventil immer noch nichts ahnte – täuschte und glauben ließ, es sei zu viel Wasser im Kühlsystem. So schaltete es kurz darauf das Notkühlsystem wieder aus – im Nachhinein ein fataler Fehler, denn so kam es zu einer Kernschmelze, bei der etwa ein Drittel des Reaktorkerns schmolz (das genaue Ausmaß des Schadens konnte aufgrund der hohen Strahlung erst zehn Jahre nach dem Unfall ermittelt werden). Da bei hohen Temperaturen die Hülle der Brennstäbe oxidiert und Wasserstoff freisetzt, bildete sich Knallgas und es kam zu einer Explosion, die jedoch das Reaktorgebäude nicht zerstörte – nur dieser Umstand verhinderte die Freisetzung großer Mengen Radioaktivität.
Es war noch einmal gut gegangen. In der Woche nach dem Unfall wurden allerdings Wasserstoff und Wasserdampf in die Atmosphäre abgelassen, so dass doch noch größere Mengen Radioaktivität freigesetzt wurden. Der Betreiber war jedoch mit dem Unfall überfordert, Experten konnten aufgrund fehlender Informationen keine Antworten auf Fragen geben und widersprüchliche Informationen verunsicherten die Bevölkerung: mindestens 140.000 Menschen flohen aus der Umgebung; wer blieb, sollte die Fenster geschlossen halten und Schulen wurden geschlossen. Berechnungen wie die, dass ein Super-GAU nur einmal in 10 Millionen Jahren auftreten könne, wurden jetzt hinterfragt, der Unfall kratzte den Status der Experten, die die Sicherheit der Atomkraft verbürgt hatten, wie auch der Zulassungsbehörden, die die Notkühlsysteme nicht geprüft hatten, schwer an. Eine von Präsident Carter eingesetzte Kommission prüfte die Zulassung- und Überwachungspraxis in den USA und fand schwere Mängel. Die gesundheitlichen Folgen der bei dem Unfall freigesetzten Radioaktivität sind umstritten, nach einer offiziellen Langzeitstudie gab es keine gesundheitlichen Folgen, die örtliche Bürgerinitiative >> Three Mile Island Alert und die Union of Concerned Scientists bezweifelten dieses Ergebnis. Die Beseitigung der Schäden im Reaktor dauerte 12 Jahre und kostete etwa 1 Milliarde Euro.
Harrisburg und die Anti-Atom-Bewegung
Die Nachricht vom Unfall in Harrisburg erreichte Deutschland genau zu Beginn einer einwöchigen wissenschaftlichen Konferenz über die Sicherheit der geplanten Anlage in Gorleben, zu der die Landesregierung eingeladen hatte. Zu einer ohnehin von den Atomkraftgegnern geplanten Demonstration in Hannover gegen die Anlage kamen 100.000 Menschen gegen die Anlage, und kurz darauf erklärte die niedersächsische Landesregierung die Wiederaufbereitungsanlage für "politisch nicht durchsetzbar". Im Oktober 1979 demonstrierten dann 150.000 Menschen in Bonn gegen die Atomkraft. Auch in den USA fanden große Demonstration der Anti-Atomkraft-Bewegung statt: Im Mai demonstrierten über 100.000 Menschen in Washington gegen die Atomkraft, im Oktober noch einmal doppelt so viele in New York. In den USA wurden nach dem Unfall von Harrisburg für fast drei Jahrzehnte keine neuen Atomkraftwerke mehr geplant (aber der Anteil der Atomkraft an der Stromversorgung wuchs dennoch, weil bereits in Bau befindliche oder geplante Kraftwerke in Betrieb gingen).
In Deutschland setzte der Bundestag eine Enquête-Kommission “Zukünftige Kernenergiepolitik“ ein, die Entscheidungen über die weitere Nutzung der Atomkraft vorbereiten sollte. Gegen die Atomkraft sprach sich nur der fraktionslose ehemalige CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl aus [2446]; um das Vertrauen in die Atomkraft zu verstärken, wurde aber ein Forschungsprogramm zur Reaktorsicherheit aufgelegt und eine Fernüberwachung eingeführt, um auch unabhängig von den Betreibern Informationen über Unfälle zu erhalten. Am Standort Gorleben war auch nach dem Ende der Wiederaufbereitungsanlage weiterhin der Bau eines Endlagers für Atommüll geplant. 1980 wurde die Tiefbohrstelle "1004" von Atomkraftgegnern besetzt, die dort die "Republik Freies Wendland" gründeten; einen Monat später wurde diese auf Anordnung der Bundesregierung geräumt.
Das Wappen
der Republik Freies Wendland.
1981 kam es in Brokdorf erneut zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, als 100.000 Demonstranten den Bauplatz besetzen wollten; im Herbst wurde das bayerische Wackersdorf als möglicher Standort einer Wiederaufarbeitungsanlage für Atommüll genannt. Hier sollte es 1985 zu einer Bauplatzbesetzung und 1986 zu einer Großdemonstration mit 100.000 Menschen kommen; nach dem >> Atomunfall von Tschernobyl kam es auch hier zu bürgerkriegsartigen Kämpfen am Bauplatz. Die Atomkraft hatte da in Deutschland längst keine Zukunft mehr: Der Bau des letzten deutsche Reaktor war 1982 begonnen worden. 1983 waren die 1980 gegründeten GRÜNEN (heute >> Bündnis 90/Die Grünen) in den Bundestag eingezogen; 1987 wurde die erste Teilerrichtungsgenehmigung für Wackersdorf vom bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben, 1989 der Bau endgültig eingestellt.