Buchbesprechung

Robin Wall Kimmerer:
Geflochtenes Süßgras

Geflochtenes Süßgras, dem dieses Buch seinen Titel verdankt, ist für seine Verfasserin Robin Wall Kimmerer das Sinnbild für ihre Antwort auf die Frage, wie wir uns allmählich in Richtung ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit bewegen könnten. In den USA ist das Buch schon 2013 erschienen und wurde im Laufe der Zeit zum „Überraschungsbestseller“ (so der Buchumschlag). Robin Wall Kimmerer ist Professorin für Umweltbiologie am College für Umwelt- und Forstwissenschaften der State University of New York – und Angehörige des indigenen Volkes der Potawatomi. Das Buch beginnt denn auch mit einer Darstellung von deren Schöpfungsmythos, dem Fall der Himmelsfrau auf die Erde. Die Himmelsfrau hatte bei ihrem Fall ein Bündel mit Zweigen, Früchten und Samen aller möglichen Pflanzen mit sich gebracht, die sie auf dem Boden verstreute. Die erste Pflanze, die auf der Erde wuchs, war das Süßgras (das übrigens auch in Deutschland – als „Wohlriechendes Mariengras“ bezeich­net – vorkommt). Bis heute ist das Süßgras für die Potawatomi eine heilige Pflanze, das Haar von Mutter Erde und damit ein besonders geschätzter „Verwandter“. Die Potawatomi sehen nämlich alle nichtmenschlichen Lebewesen wie Tiere, Pilze und Pflanzen als ihre Verwandten.

Und das unterscheidet für Robin Wall Kimmerer das Denken der Indigenen maßgeblich vom Denken der späteren Immigranten in die USA, die sich als Krone der Schöpfung sahen und die anderen Lebewesen in der Hierarchie des Lebens irgendwo weit unter sich. Dieses unterschiedliche Denken führte zu einem unterschiedlichen Handeln: Für die Potawatomi hatte die Himmelsfrau einen Garten für das Wohlergehen aller Lebewesen geschaffen. Seine Gaben sind ein Geschenk, für das sie danken, das sie aber auch erwidern müssen. Das Erwidern besteht darin, dass sie dem Land ihrerseits Gutes tun. Jeder hat seine Aufgabe (die moderne Wissenschaft würde sagen: ökologische Rolle), deren Erfüllung das System erst produktiv macht. Aus diesem Geben und Nehmen entstand eine Beziehung: die Potawatomi sehen sich als Teil des Landes und die Natur als Teil von sich selbst. (Und mit dem Flechten ihres Haares – des Süßgrases – zeigen sie Mutter Erde ihre Fürsorge und Liebe, was das geflochtene Süßgras zum Sinnbild des indigenen Denkens macht.) Für die neuen Einwanderer, die nach 1492 in das Land der Potawatomi gekommen waren und deren biblische Mutter Eva aus ihrem Garten vertrieben worden war, war die Natur dagegen eine Ressource, die sie sich untertan machen und beliebig ausbeuten konnten. Sie machten alles zur Ware, die verkauft und gekauft werden konnte. Diese beiden Sichtweisen trafen bald aufeinander – für die neuen Herren des Landes waren die Potawatomi und andere Indigene unfähig, das Land vernünftig zu nutzen. So ernteten sie den Wilden Reis nur wenige Tage, und ließen dabei noch die Hälfte ins Wasser fallen (und sorgten so dafür, dass auch die anderen "Verwandten" wie Enten noch genug Reis fanden und der Reis für das nächste Jahr ausgesät wurden). Dass sie Mais, Bohnen und Kürbis in Mischkultur anbauten (der Mais bot den Bohnen ein Gestell, an dem sie hochranken konnten; die Bohnen mit ihren stickstoff­bindenden Bakterien in den Wurzeln versorgten den Mais und den Kürbis mit Stickstoff; der Kürbis bedeckte den Boden und hielt damit Unkräuter in Schacht), war für sie – die ihre Pflanzen wie in ihrer alten Heimat getrennt und säuberlich in Reihen anbauten – ein Beweis, dass die Indigenen auch vom Anbau nichts verstanden. So wurden diese immer wieder in immer unwirtlichere Regionen vertreiben – und als sie dort dennoch zurecht kamen, wurden den indigenen Familien die Kinder entrissen und in „Indianer­internate“ gesteckt, wo sie lernen sollten, wie die Weißen zu leben. Wenn sie ihre "dreckige Indianersprache" sprachen, wurde ihnen der Mund mit Seife ausgespült. Auch Robin Wall Kimmerers Großvater gehörte zu diesen Kindern. Und heute können sich die meisten der wohlmeinenden, sich dem Umweltschutz verschriebenen Studierenden in den Ökologiekursen von Robin Wall Kimmerer nicht mehr vorstellen, dass der Mensch die Natur nicht nur schädigen, sondern durch sein Handeln auch fördern kann.

Dass dies aber geht, zeigte Robin Wall Kimmerers Studentin Laurie Reid in ihrer Doktorarbeit. Die Potawatomi und manche ihrer Bräuche haben die „Indianerpolitik“ der USA nämlich überlebt, so auch der Brauch, Süßgras zu ernten, um daraus Körbe und Zöpfe – ein beliebtes Geschenk – zu flechten. Für diese Ernte gibt es aber Regeln, der Befolgung aus der Ernte eine „Ehrenhafte Ernte“ macht. Und tatsächlich zeigte sich in der Doktorarbeit, dass nach diesen Regeln abgeerntete Süßgrasbestände produktiver sind als nicht genutzte – nicht abgeerntete – Bestände. Eine maßvolle Nutzung des Süßgrases schadet diesem also nicht, sondern nutzt ihm sogar. Die Potawatomi haben dieses verstanden, weil sie „die Sprache des Süßgrases“ sprachen und als Ergebnis ihrer Beobachtungen Regeln für die Nutzung aufstellten; die moderne Wissenschaft bestätigt – wie Laurie Reids Doktorarbeit zeigt – diese Erkenntnisse. Für Robin Wall Kimmerer können wir daraus von ihrem Volk (und anderen indigenen Völkern auf der Erde) aber lernen, dass wir unser Verhältnis zur Natur überdenken (Robin Wall Kimmerer würde sagen: heilen) müssen: deren Denkweise schützt die ökologischen Systeme, von denen wir abhängen, die andere hat zum heutigen Zustand der Natur geführt. Ohne die Natur können wir nicht überleben, sie (wenn auch nicht absichtlich, so aber doch als „Kollateralschaden“ unserer wirtschaftlichen Entwicklung in Kauf genommen) so zu verändern, dass sie uns keine Geschenke mehr geben kann, kann nicht schlau sein.

Robin Wall Kimmerer verschweigt übrigens nicht, dass das Leben der Indigenen nicht immer idyllisch war; manche von ihnen kannten auch den jährlichen „Hungermond“ im Winter, wenn die Essensvorräte zu Ende gingen und das Wild selten wurde. Sie will auch nicht zurück zu den alten Lebensweisen oder uns „Weißen“ nahelegen, wie die Indigenen zu leben. Aber sie will, dass wir voneinander lernen – als Professorin weiß sie natürlich auch die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaft zu schätzen. Aber sie denkt, dass sich moderne Wissenschaft und traditionelle Weisheit gegenseitig unterstützen können, wie Mais, Bohnen und Kürbis. Die Botschaft, dass unser Verhältnis zur Natur nicht nur ein Nehmen, sondern auch ein Geben sein sollte, dass wir uns schon im eigenen Interesse für unsere nichtmenschlichen „Verwandten“ (eine Erkenntnis, die die moderne Naturwissen­schaft ja ebenfalls teilt) verantwortlich fühlen sollten, kann auch uns hochentwickelten Industrieländern auf dem Weg zur ökologischen Nachhaltigkeit sicher helfen. So haben wir etwa in Deutschland seit Jahrhunderten die Moore für „nutzlos“ gehalten und entwässert – und entdecken sie jetzt als wichtigen Kohlenstoffspeicher und beginnen, sie als Kohlen­stoff­senke wieder zu vernässen. Es gab auch bei uns Menschen, die die Moore erhalten wollten – auf sie gehört haben wir aber nicht. Hinter dieser und anderen Zerstörungen der Natur steht die Geschichte, die wir uns über das Funktionieren der Welt erzählen: in den Industrie­ländern ist das eine Geschichte, in der das Wirtschaftswachstum immer noch über allem steht. Robin Wall Kimmerer zeigt uns, dass es auch andere Geschichten über die Welt gibt. Sie erzählt ihre andere Geschichte übrigens nicht nur am Beispiel des Süßgrases, sondern auch vieler anderer Pflanzen. Aber dafür müssen Sie das Buch selber lesen – es lohnt sich.

Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Aufbau Verlage Berlin, 2021; 461 S., 24,00 Euro.

© Jürgen Paeger 2021

Titel des Buches "Geflochtenes Süßgras" von Robin Wall Kimmerer
Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Aufbau Verlage, Berlin, 2021; 461 S., 24,00 €.

Das Buch in Kürze:
Eine andere Art, wie man unsere Welt sehen kann: der Mensch als Teil der Natur, für die er Verantwortung übernehmen muss.