Hintergrundinformation
Das Leben
Darwin und die Evolutionstheorie

Charles Darwin. Ausschnitt
eines Gemäldes von George Richmond, späte 1830er Jahre.
Aus
wikipedia, Charles
Darwin (public domain).
Bis ins 19. Jahrhundert hinein dominierte im christlichen Kulturkreis die
biblische Schöpfungsgeschichte die Vorstellung von der Entstehung des
Lebens. Mit der kopernikanischen Revolution (
mehr) war vielen Menschen aber klar geworden, dass man nicht alle
Aussagen der Bibel wörtlich nehmen darf. Im 17. und 18. Jahrhundert war
zudem die Beschäftigung „mit den Steinen“ große Mode geworden – aus ihr
sollte die Geologie hervorgehen. Die Geologen begannen, Gesteine nach der
Zeit ihrer Ablagerung einzuteilen. Sie erkannten, dass die Erde
unvorstellbar viel älter sein musste als die wörtliche Auslegung der Bibel
nahe legte. Über das wirkliche Alter konnten sie nur Vermutungen anstellen;
das frühere „Wunderkind“ Lord Kelvin (der bereits mit 10 Jahren die
Universität besuchte) etwa schätzte die Erde im Jahr 1862 auf 98 Millionen
Jahre – eine Einschätzung, die er bis zum Jahr 1897 mehrfach nach unten, auf
zuletzt höchstens 24 Millionen Jahre, revidierte. Länger, so dachte er,
konnte ein Himmelskörper wie die Sonne nicht leuchten, ohne alle seine
Brennstoffe zu verbrauchen (ein Problem, dass erst die Entdeckung der
Kernfusion als Energiequelle löste). Eine andere Einschätzung wurde aber
durch die Entdeckung versteinerter, ausgestorbener Tierarten genährt: Bald
erkannten die Geologen, dass bestimmte Fossilien nur in Gesteinen eines
bestimmten Alters auftraten, und daher zu Altersbestimmung geeignet waren.
Die Entdeckungen erschütterten auch den Glauben an die Unveränderlichkeit
der Schöpfung und warfen unangenehme Fragen nach der Vorsehung auf: Warum
erschuf Gott erst Arten, die er später wieder vernichtete?
Im Jahr 1809 veröffentlichte der französische Biologe Jean-Baptiste de
Lamarck, Professor am Pariser Museum für Naturgeschichte, mit seiner “Philosophie
zoologique” erstmals eine Evolutionstheorie: Genau wie sich
ausgewachsene Tiere durch allmähliche Veränderungen aus einer befruchteten
Eizelle entwickeln, sollte sich die Welt des Lebendigen von den einfachsten
zu immer komplexeren Lebensformen entwickeln. Die Veränderlichkeiten der
Arten hatte er an fossilen Weichtieren aus dem Pariser Becken erkannt. Sein
Gedanke fand damals zwar Anhänger unter den Naturforschern, rief aber in der
breiten Öffentlichkeit kaum Reaktionen hervor. Das sollte im Jahr 1859 ganz
anders sein, als Charles Darwins Buch „Die
Entstehung der Arten“ erschien. Darwin hatte erkannt, dass zur
Evolution nicht nur die schon von Lamarck erkannte Veränderung der Arten von
einem ursprünglichen zu einem abgeleiteten Zustand gehörte (von den Biologen
heute „Anagenese“ genannt), sondern auch die Aufspaltung alter Arten zu
neuen – Evolution durch Verzweigung (von Darwin als „Baum des Lebens“
bildlich beschrieben, von den Biologen heute “Kladogenese” genannt). Die
Arten hatten sich danach aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt, in Lamarcks
Vorstellung war noch jede Abstammungslinie aus einem durch „Urzeugung“
entstandenem Infusorium entsprungen.
Darwins Theorie beruhte auf zwei Erkenntnissen: Er wusste erstens, dass
alle Individuen einer Art sich voneinander unterscheiden und dass diese
Unterschiede erblich sind. Sie sind die Grundlage der Tier- und
Pflanzenzucht (Darwin war Mitglied in zwei Taubenzuchtvereinen), wo die aus
Sicht der Züchter besten Exemplare zur weiteren Zucht verwendet werden und
die ausgesuchten Merkmale sich immer stärker ausprägen. Zweitens wird in der
Natur ein Überschuss an Nachwuchs produziert; dies hatte der britische
Nationalökonom Thomas Malthus schon 1798 in seinem “Essay on the Principle
of Population” beschrieben und Hungerkatastrophen vorausgesagt. Der
Überschuss an Nachwuchs führt aber meist nicht zu steigenden Zahlen von
Lebewesen, vielmehr bleibt diese im Durchschnitt gleich. Nur ein Teil des
Nachwuchses überlebt also; und wer überlebt, war nach Darwin nicht rein
zufällig: Vielmehr übernahmen selektive Kräfte der Natur
wie Nahrungsangebot oder Raubtiere die Rolle des Züchters – die Auswahl der
besten Exemplare. In der Natur sind das die Individuen, die am besten an die
Gegebenheiten ihrer Umwelt angepasst sind, etwa mehr Nahrung fanden oder für
Raubtiere schwerer zu erkennen waren. Diese pflanzen sich mit größerer
Wahrscheinlichkeit fort. Diese “natürliche Auslese” erfolgt
also indirekt und unbewusst; im Laufe der Zeit entstehen dadurch aber immer
besser an ihre Umwelt angepasste Arten. Nicht die Arten passten sich also an
die Umwelt an (Lamarcks Idee), sondern die Umweltbedingungen sorgen dafür,
dass manche Individuen sich sich stärker vermehren können als andere und
sich ihre Merkmale so weiter ausbreiten.
Die folgenreiche Reise eines Naturforschers um die Welt
Charles Darwin hatte sich als junger Mann an den Universitäten Edinburgh
und Cambridge intensiv mit den Naturwissenschaften auseinandergesetzt, unter
anderem entstand dort eine lebenslange Liebe zu geologischen Untersuchungen.
Mit 22 Jahren begann er, im Dezember 1831, eine fünfjährige Tätigkeit als
Naturforscher auf der H.M.S. Beagle. Die Beagle sollte die südliche Küste
Südamerikas kartieren und die Welt umsegeln, um chronometrische
Aufzeichnungen zur Bestimmung der Längengrade zu machen. Auf dieser Reise
untersuchte Darwin die Geologie, Tier- und Pflanzenwelt vor allem
Südamerikas, darunter die später so berühmt gewordene Tierwelt der
Galapagos-Inselgruppe. (Dabei war Darwin die später so wichtige
Artenvielfalt auf den Inseln zunächst nicht aufgefallen.) Diese Reise sollte
aus zwei Gründen bedeutsam für die Entwicklung der Evolutionstheorie werden:
Zum einen las Darwin auf dem Schiff Lyells “Prinzipien der Geologie” (
mehr), in
denen Lyell zeigt, dass kleine Veränderungen sich über sehr lange Zeiträume
zu gewaltigen Änderungen summieren können. Zum anderen hat bis dahin wohl
kaum ein Naturforscher derart intensiv die gesamte Welt der Natur kennen
gelernt wie Darwin, der Lebensräume, Verhalten und Verbreitungsgebiete von
Tieren und Pflanzen sorgfältig beobachtete und gedanklich verarbeitete. Wann
Darwin dabei begann, seine Theorien auszuarbeiten, hat ganze Generationen
von Wissenschaftshistorikern beschäftigt; Einigkeit besteht bis heute nicht.
Darwin selbst verweist in “Die Entstehung der Arten” auf die Verbreitung
der Bewohner Südamerikas und der “Beziehungen der jetzigen zu der früheren
Bevölkerung dieses Weltteils”; Tatsachen, die ihm “einiges Licht auf den
Ursprung der Arten zu werfen” schienen. Im September 1832 fand er etwa bei
einem Aufenthalt der Beagle in Bahía Blanca Knochen eines ausgestorbenen
Riesenfaultieres, das den noch lebenden Faultieren anatomisch ähnelte, aber
fast so groß wie ein Elefant war – viel zu groß, um auf Bäumen zu leben. Am
Rio Negro in Patagonien hörte er Gauchos von einem “kleinen Strauß”
sprechen, der neben dem verbreiteten “südamerikanischem Strauß” (heute
werden die in Südamerika lebenden Laufvögel Nandus genannt) vorkommen sollte – Darwin erkannte bald, dass das Verbreitungsgebiet beider Arten sich kaum
überschnitt. Ausgestorbene Verwandte heutiger Tiere und ähnliche, aber
getrennt voneinander vorkommende Arten – Zeit und Raum, so ahnte Darwin wohl
bald, konnten irgendwie neue Tierarten entstehen lassen.
Nach seiner Rückkehr im Oktober 1836 begann Darwin damit, das
umfangreiche Material aufzuarbeiten, das er während der Reise gesammelt
hatte. Er gab eine fünfteilige “Zoologie der Reise der H.M.S. Beagle”
heraus, veröffentlichte sein Tagebuch (“Die Fahrt der Beagle”) – und dachte
weiter darüber nach, ob Arten durch allmähliche Veränderungen entstehen
können. Die auf der Fahrt gesammelten Tiere waren von Spezialisten
untersucht worden – Richard Owen untersuchte die fossilen Säugetiere, John
Gould die Vögel, Thomas Bell die Reptilien. Eine entscheidende Rolle spielte
dabei die Vogelwelt der Galapagos-Inseln. Gould hatte erkannt, dass die
Inseln jeweils eigene Arten an Spottdrosseln und Erdfinken besaßen – und
Darwin erkannte die Bedeutung dieser Entdeckung: Die Galapagos-Inseln, die
eigentlich die Gipfel von im Meer verborgenen Vulkanbergen sind, waren
niemals mit dem Festland verbunden; alles Leben war daher vom Festland
eingewandert. In ganz Südamerika gibt es etwa nur eine einzige
Spottdrossel-Art, auf Galapagos auf drei Inseln drei Arten. Könnte nicht die
Festlandsart auf die Inseln gelangt sein, und die drei Arten sich auf den
jeweiligen Inseln aus ihr entwickelt haben? Wäre dies nicht ein schönes
Beispiel für die Veränderlichkeit von Arten? An den Finken ließ sich zudem
erahnen, wie die “selektiven Kräfte der Natur” ihre Rolle bei dieser
Artbildung gespielt haben könnten: Die Schnäbel der drei Arten waren jeweils
an andere Nahrung angepasst – Insekten, Kakteen oder Samenkörner. Darwin
sollte diesen Gedanken noch weiterdenken: Warum sollten die Arten insgesamt
nicht ebenfalls einen gemeinsamen Vorfahren haben? So entwickelte er die
Idee vom „Baum des Lebens“, der sich aus einem gemeinsamen Stamm immer
weiter verzweigt und schließlich die Vielfalt des Lebens hervorbringt.

Der “Baum des Lebens”, aus dem Notizbuch B aus dem Jahr
1837. Abb. aus
wikipedia.
Solche Gedanken hielt Darwin zunächst in geheimen Notizbüchern fest, die
erst nach seinem Tod gefunden wurden. Über sieben Jahre – von 1837 bis 1844 – arbeitete er eine druckreife Abhandlung über die Evolution aus, die er
jedoch nie veröffentlichte. Nur gegenüber einem Freund, dem Botaniker Joseph
Hooker, deutete er an, worüber er nachdachte. 1844 erschien von einem
anonymen Verfasser die “Natürliche Geschichte der Schöpfung des Weltalls,
der Erde und der auf ihr befindlichen Organismen”, die ebenfalls die
Evolution vertrat. Diese Buch entfachte eine öffentliche Diskussion über die
Evolution, hatte begeisterte Anhänger und entschiedene Gegner. Für Darwin
war das Buch ein Schock, hatte der Autor doch den Grundgedanken der
Evolution richtig erfasst – allerdings auf schwacher Faktenbasis. Darwin
begann, an einer besseren Tatsachenbasis für sein eigenes Werk zu arbeiten,
zu der unter anderem ein Taubenzuchtprogramm gehörte und eine achtjährige
intensive Untersuchung der Rankenfüßer (eine zu den Krebsen gehörende
Tiergruppe, die unter anderem die Seepocken und Entenmuscheln umfasst). 1856
stellt er seine Überlegungen erstmals im Freundeskreis (unter anderem in
Gesprächen mit Hooker und Charles Lyell) zur Diskussion, und begann auf
Lyells Rat mit der Abfassung eines Buches. Dann erreichte ihn 1858 ein Brief
des Naturforschers Alfred Russel Wallace mit einem Manuskript, das eine
Theorie zur Entstehung der Arten enthielt, die genau der von Darwin
entsprach.
Der andere Darwin
Alfred Russel Wallace hatte sich seine Naturkenntnisse
überwiegend selber beigebracht; als achtes von neun Kindern eines verarmten
Anwalts kam ein Universitätsstudium für ihn nicht in Frage. 1848 ging er mit
25 Jahren, angeregt durch die Reiseberichte Alexander von Humboldts und
Charles Darwins, nach Brasilien, um Tiere und Pflanzen zu sammeln, die er
an Museen verkaufen wollte. Vier Jahre blieb er in Amazonien – und verlor
seine Sammlung bei einem Schiffbruch auf der Rückfahrt. Nur die Tatsache,
dass sein Agent Samuel Stevens die Ladung ohne sein Wissen versichert hatte,
bewahrte ihn vor dem finanziellen Ruin. 1854 brach er wieder auf, diesmal
für acht Jahre auf die Inseln des Malaiischen Archipels. Er sammelte viele
Tausend Tiere, die er an Stevens sandte – und entdeckte schnell die
Variabilität innerhalb der Arten. Wallace untersuchte auch die
Verbreitungsmuster vieler Tierarten in “seinem” Archipel, und brachte diese
mit ihrer Entstehungsgeschichte in Zusammenhang. Als er diese Gedanken mit
Malthus’ Studie über das Bevölkerungswachstum verband, kam er zum selben
Ergebnis wie Darwin – dessen Überlegungen er nicht kannte, obwohl er mit ihm
seit zwei Jahren korrespondierte. So kam es, dass er Darwin sein Manuskript
schickte ... Der Rest ist Geschichte: Joseph Hooker und Charles Lyell
setzten am Vorabend der Jahresversammlung der Linné- Gesellschaft zwei
Beträge auf die Tagesordnung: Darwins Abhandlung von 1844 und Wallaces
Manuskript. Damit war Darwins ältere Urheberschaft nachgewiesen. Zwar
würdigte Darwin später Wallace in seiner “Entstehung der Arten”, aber
beinahe wäre er als Zweiter doch in Vergessenheit geraten. Aber da gibt es
noch die Wallace-Linie, eine mitten durch das Malaiische
Archipel verlaufende biogeografische Trennlinie, die eine asiatische Flora
und Fauna im Westen von einem australischen Gegenpart im Osten trennt.
Wallace hatte sie 1869 in seinem Buch “Das Malayische Archipel” beschreiben,
heute ist sie nach ihm benannt.
Wallace selbst erkannte Darwins Vorsprung bei der
Entwicklung einer Theorie zur Entstehung der Arten immer an; sein eigenes
Buch von 1889 über die natürliche Auslese nannte er “Darwinismus”. Heute
wird Wallace aber eine ganz andere Vorreiterrolle zugesprochen: bereits früh
beschäftigte er sich mit den globalen Zusammenhängen des Lebens auf der
Erde. So beschäftigte er sich mit der Rolle des Staubes in der Atmosphäre
bei der Wolkenbildung und damit seinem Einfluss auf das Klima der Erde. Auch
Darwin hatte auf der Beagle Staub aufgefangen und vermutet, dieser stamme
aus der Sahara und flöge nach Südamerika. Darwin interessierte aber nur die
Verbreitung von Sporen und Kleinlebewesen mit diesem Staub; Wallace hingegen
nahm die Herangehensweise der modernen
Erdsystem-Wissenschaften vorweg.
Innerhalb von anderthalb Jahren vollendete Darwin nach diesem Schock sein
Buch “Die Entstehung der Arten”. Darwins Buch profitierte von seinen
profunden Naturkenntnissen – es fließt von Beispielen aus allen Zweigen der
Naturgeschichte geradezu über. (Wallace soll das Buch, das Darwin ihm
geschickt hatte, fünf oder sechs Mal gelesen und jedesmal noch tiefer
beeindruckt gewesen sein.) Die Massen an Material konnten eine Diskussion
nicht verhindern: Die Vorstellung einer sich verändernden Tier- und
Pflanzenwelt war zu ungewohnt; und außerdem waren nach Darwin die Organismen
Ergebnis eines natürlichen Prozesses, und nicht Schöpfungen eines göttlichen
Meisters. Darwin oder die Bibel? Die Diskussion ist bis heute nicht ganz
beendet (
hier), und weil das Buch einen derart radikalen Bruch mit überkommenen
Gedankenwelten darstellte, gilt es als “Grundstein der modernen Welt” (die
Wissenschaftshistorikerin Janet Browne, siehe
Literaturtipps.
Darwins “Entstehung der Arten” verändert die Welt
Mit seiner Evolutionstheorie lieferte Darwin eine Lösung für ein altes
Problem der Naturkundler: Diesen war aufgefallen, dass viele Tiergruppen
gemeinsame Merkmale hatten. So haben z.B. Frösche, Schlangen, Vögel und
Menschen eine Wirbelsäule. Auch waren offensichtlich einige Tiere sich so
ähnlich, dass man von „Verwandtschaften“ sprach: So sind beispielsweise
Katzen offenbar mit Luchsen, Löwen und Geparden verwandt, und wurden von den
alten Naturkundlern in eine gemeinsame Gruppe (die „Katzenartigen“)
gesteckt. Aus Darwins Theorie folgt nun: Frösche, Schlangen, Vögel und
Säugetiere stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, dem sie alle die
Wirbelsäule verdanken. Katzen, Luchse, Löwen und Geparden sind tatsächlich
über einen gemeinsamen Ahnen verwandt – und sich nicht nur zufällig ähnlich.
Darwins Theorie regte die Zoologen zu vergleichenden Untersuchungen an, bei
denen sie zahlreiche “Homologien” entdeckten: Strukturen mit einer
gemeinsamen stammesgeschichtlichen Herkunft. Das Wort Homologie hat der
britische Anatom Richard Owen geprägt, dem aufgefallen war, dass die
Gliedmaßen der unterschiedlichsten Lebewesen ähnlich aufgebaut waren: So
sind etwa die Knochen in den Flügeln der Vögel genau wie in unseren Armen
zusammengesetzt. Owen glaubte jedoch, diese Ähnlichkeit sei der Plan des
Schöpfers; Darwins Erklärung war die gemeinsame
Entstehungsgeschichte. Einen weiteren Hinweis lieferte die
Untersuchung der Entwicklung von Embryonen: In den 1830er Jahren entdeckte
der deutsch-baltische Naturforschers Karl Ernst von Baer, dass Embryonen in
ihrer frühen Phase ein allen Tierarten gemeinsame Form haben (und sich alle
Organe auf drei Schichten im Embryo zurückführen ließen, die er Keimblätter
nannte), die artspezifischen Eigenschaften entstehen erst später. Später
zeigt Ernst Haeckel, dass sie dabei die stammesgeschichtliche Entwicklung
rekapitulieren: So durchlaufen die Embryonen der Wirbeltiere ein Stadium, in
dem sie Kiemen haben. (Diese von Haeckel zum “Biogenetischen Gesetz”
erklärte Erkenntnis wird heute nur noch als “Grundregel” bezeichnet, da es
Ausnahmen gibt – Embryonen verfügen auch über eigene Anpassungen an ihre
Umwelt, die zu Abweichungen führen können.) Diese Abfolge zeigt, dass in der
Evolution neue Merkmale stets auf bereits vorhandenen Merkmalen aufbauen.
Diese Erkenntnisse führten dazu, dass sich einige Aspekte von Darwins
Theorie, so die Idee von der Evolution als solcher und von der gemeinsamen
Abstammung, schon einige Jahren nach Erscheinen von „Die Entstehung der
Arten“ durchgesetzt hatten.
Andere Aspekte lösten heftige Diskussionen aus, etwa die Theorie von der natürlichen Auslese
als Ursache der Evolution und Darwins Vorstellungen von der Artenentstehung.
Dabei spielte nicht nur die wörtliche Auslegung der Bibel eine Rolle,
sondern auch naturwissenschaftliche Theorien wie die „Typenlehre“ – der auf
die Griechen zurückgehende Glaube, dass alle scheinbar veränderlichen
Naturphänomene sich in unveränderliche Klassen (“Typen”) einteilen lassen.
Für Aristoteles war ein Huhn nur eine (mehr oder weniger fehlerhafte)
Ausprägung einer “Huhnheit”; Darwin machte aber gerade die individuellen
Ausprägungen der einzelnen Individuen innerhalb der Klassen zum Ansatzpunkt
der natürlichen Auslese – eine Erkenntnis, die er mit Alfred Russel Wallace
teilte, die aber erst 80 Jahre später allgemein anerkannt werden sollte.
Heute ist diese Denkweise die Grundlage des Populationsdenkens in der
Biologie: Eine Art ist die Gesamtheit ihrer Populationen, mit all der in
ihnen steckenden individuellen Vielfalt. In der Sowjetunion und von vielen
ihrer Anhänger wurde der Darwinismus aus einem anderen Grund abgelehnt: Er
galt wegen des
Sozialdarwinismus als kapitalistische Ideologie.
Sozialdarwinismus
Während Darwins Ideen im 19. Jahrhundert in der Biologie noch heiß
umstritten waren, wurden sie bald herangezogen, um die wirtschaftliche
Ungleichheit im viktorianischen England zu rechtfertigen. Als erster wandte
der englische Philosoph Herbert Spencer die Evolutionstheorie auf die
Gesellschaft an und prägte 1864 den Begriff “Überleben des Tüchtigsten”
(survival of the fittest); einen Begriff, den Darwin 1869 in die 5. Auflage
seiner Entstehung der Arten übernahm. Spencer glaubte, dass auch in der
Gesellschaft die “unsichtbare Hand der Evolution” dafür sorgt, dass sich
langfristig das durchsetzt, was für das dauerhafte Bestehen der Gesellschaft
am besten sei. Im wilden Kapitalismus der frühen Industrialisierung (
mehr) wurde dies so verstanden, dass auch in Wirtschaft und
Sozialpolitik der “Kampf” die entscheidende Antriebskraft sein sollte und
damit die Ellenbogen-Gesellschaft des Manchester-Kapitalismus
gerechtfertigt.
Der englische Naturforscher Francis Galton (wie Darwin ein Enkel Erasmus
Darwins) schlug ein Programm zur Züchtung optimierter Menschen vor, das er
später “Eugenik” nannte. Andere, wie der aus Krakau stammende Soziologe
Ludwig Gumplowicz, übertrugen die Idee auf einen angeblichen Kampf der
“Rassen” ums Überleben; hiermit wurde im Imperialismus die Vernichtung von
Urvölkern gerechtfertigt. Unter dem Namen “Rassenhygiene” kam es im
Nazi-Deutschland zur “Vernichtung unwerten Lebens”. Mit den ursprünglichen
Ideen Darwins und Spencers hatten diese Perversionen nicht zu tun – Spencer
als Liberaler lehnte staatliche Eingriffe in die Gesellschaft ab; Darwins
natürliche Zuchtwahl betraf die Individuen innerhalb einer Population, nicht
irgendwelche “Rassen” (1)
(und es gibt auch keine Instanz, die bewusst über “Minderwertigkeit”
entscheiden dürfte – eine Rolle, die im Falle der Rassenhygiene immer die
Mörder selbst übernahmen).
Aber auch Darwin hat, wie seine mitunter sehr negativen Beschreibungen
der Naturvölker belegen, die er auf seiner Reise kennengelernt hat, einen
entscheidenden Punkt übersehen: Die Bedeutung der kulturellen Evolution bei
Menschen und Gesellschaften. Für Darwin war seine englische Gesellschaft das
Maß aller Dinge, er erkannte das Leben der Naturvölker nicht als Anpassung
an ganz eigene Lebensumstände. Die von Darwin als “erbärmlichste und
elendigste Wesen, die ich jemals erblickt hatte” beschriebenen Feuerländer
erkannte er nicht als Volk, das immerhin seit Tausenden von Jahren ohne
technische Hilfsmittel in einem extrem unwirtlichen Klima überlebt hat, und
aus Ästen und Rinden Boote bauen kann, von denen aus es mit Speeren Fische
und Robben erlegt – und das eine komplexe Sprache und ein komplexes
spirituelles Leben besaß. Vor allem wurde er nicht einmal stutzig, als
entführte Kinder auf der Beagle schnell die englische Sprache und Manieren
lernen: Wie groß kann der biologische Unterschied sein, wenn Kinder so
schnell ein ganz anderes Leben lernen? Er ist ganz unbedeutend – längst hat
die kulturelle Evolution beim Menschen die Bedeutung der biologischen
Evolution abgelöst. Dass wir heute ganz anders leben als die Bauern vor 300
Jahren, hat nichts mit biologischer, aber alles mit kultureller Evolution zu
tun. Diese ist aber nicht darwinistisch – im Gegenteil, die kulturelle
Evolution besteht in der Weitergabe erworbenen Wissens und Könnens. Zwar
weisen Soziobiologen darauf hin, dass auch die kulturelle Evolution
biologische (und damit der Evolution unterworfene und mit ihrer Hilfe
verstehbare) Grundlagen hat; die Evolution mag daher dazu beitragen können,
kulturelle Entwicklungen zu erklären. Aber darwinistische Ideen sind ganz
ungeeignet, nichtdarwinistische gesellschaftliche Entwicklungen steuern zu
wollen. Dass es dennoch versucht worden ist, dafür ist nicht Darwin
verantwortlich zu machen, sondern diejenigen, die es getan haben.
Mehr zur
kulturellen Evolution.
Die Synthese von Genetik und Evolutionstheorie
Die Ende des 19. Jahrhunderts entstehende
Genetik
verstärkte zunächst das Lager der Skeptiker: Viele Genetiker glaubten, dass
Mutationen ausreichten, die Bildung neuer Arten zu erklären. Erst in den
1930er und 1940er Jahren wurden die Ergebnisse der Genetik und der
Evolutionstheorie zusammengebracht; besonders bedeutend war die
Veröffentlichung “Die genetischen Grundlagen der Artbildung” des
ukrainisch-amerikanischen Naturforschers und Genetikers Theodosius
Dobzhansky. Er hatte sich als Naturforscher in seiner Jugend mit
Käfern beschäftigt und sich mit der Evolutionstheorie beschäftigt; mit 27
Jahren emigrierte er in die USA und arbeitete im “Fliegenlabor” von Thomas
Hunt Morgan (
mehr),
wo er die Genetik kennenlernte. Sein Werk legte den Grundstein fur die
Synthese von Genetik und Evolutionstheorie, die vom deutsch-amerikanischen
Evolutionsbiologen Ernst Mayr weiter vorangetrieben wurde.
Dobzhansky und Mayr zeigten, dass die von den Genetikern entdeckten
Mutationen eine wesentliche Ursache für die Variabilität der Individuen
innerhalb einer Art sind, und diese der Ansatzpunkt für Darwins natürliche
Auslese. Der Biologe und Schriftsteller Julian Huxley
präsentierte die Ergebnisse mit seinem Buch “Evolution: The Modern
Synthesis” einem breiten Publikum. Seither ist der um genetische Erklärungen
erweiterte Darwinismus in Form der “Synthetischen Evolutionstheorie” das
Grundgerüst des Evolutionsdenkens in der Biologie.
Ist die Evolution "nur" eine
Theorie?
Während im Alltagsgebrauch das Wort Theorie oft nur eine
Vermutung bezeichnet, versteht die Naturwissenschaft unter einer Theorie ein
möglichst überprüfbares Bild der Wirklichkeit. Wenn, wie im Fall der
Evolution, Tausende von Tatsachen die Theorie belegen, aber keine einzige
dagegen spricht, kommt eine solche Theorie einer Wahrheit aus dem
Alltagsgebrauch sehr nahe. Aber in der Wissenschaft ist ein “Beweis” einer
Theorie nicht möglich, da auch falsche Theorien richtige Ergebnisse liefern
können (siehe auch
hier). Daher können grundsätzlich nur falsche Theorien widerlegt werden.
Die Evolutionstheorie wäre zum Beispiel wiederlegt, wenn man versteinerte
Kaninchen aus dem Präkambrium finden würde (ein Beispiel des britischen
Biologen J.B.S. Haldane); ähnliches ist aber nie geschehen, alle bisherigen
Fossilfunde sind mit ihr vereinbar. Diese Einschränkung führt aber dazu,
dass es in der Wissenschaft keine endgültigen Wahrheiten, sondern nur mehr
oder weniger gut belegte Theorien geben kann – die man aber nicht mit den
“Theorien” aus dem Alltagsgebrauch verwechseln darf, die in der
Naturwissenschaft als “Hypothesen” (begründete Vermutungen) bezeichnet
werden.
Anmerkung:
(1) Zwar lautet der Untertitel von Darwins
“Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl” “Die Erhaltung
der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein”, aber wie aus dem Buch
hervorgeht, verstand Darwin “Rasse” im aus der Tierzucht stammenden Sinn der
frühen Biologie als Population mit abgrenzbaren Merkmalen, nicht – wie etwa
die Nazis – als auf Herkunft bezogene Abgrenzung. Heute, mit modernen
genetischen Kenntnissen (
hier) versehen,
würde Darwin wohl nicht von “Rasse”, sondern von “allen Individuen mit einem
bestimmten Allel” (Dawkins 2009, siehe Literaturtipps) sprechen.
Literaturtipps:
Darwins Hauptwerke “Reise eines Naturforschers um die Welt”, “Über die
Entstehung der Arten...”, “Die Abstammung des Menschen” und “Der Ausdruck
der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren” sind bei
Zweitausendeins in einem preiswerten Sammelband “Gesammelte Werke”
erschienen (2006;
www.zweitausendeins.de).
Die “Reise eines Naturforschers um die Welt” gibt es zudem für Liebhaber
schöner, gebundener Bücher unter dem Titel “Die Fahrt der Beagle” beim
Marebuchverlag (2006).
Website:
Das komplette Werk von Charles Darwin findet sich online auf
www.darwin-online.org.uk.
Die Geschichte und Wirkung von Darwins Buch “Die Entstehung der Arten”
ist in Janet Brown: “über Charles Darwin Die Entstehung der Arten” (dtv
2007) dargestellt.
Darwins Reise nachvollzogen hat Jürgen Neffe und berichtet darüber und
über die Entstehung der Evolutionstheorie in Darwin. Das Abenteuer des
Lebens (C. Bertelsmann, 2008).
Zurück zu:
Evolution
Weiter im Hauptbeitrag:
Die Geschichte
des Lebens auf der Erde