Das Zeitalter der Industrie

Die Folgen der Industriellen Revolution

Die Industrielle Revolution veränderte die Länder, in denen sie geschah: der Bergbau und von Rauch und Schmutz geplagte Industriereviere prägten ganze Regionen, die Städte wuchsen und Verkehrsadern durchzogen das Land. Die wachsende Kluft zwischen wohlhabenden Bürgern und armen Arbeitern brachte die soziale Frage auf die Tagesordnung, eine Arbeiterbewegung zähmte den Industriekapitalismus in den Ländern des Westens. Er prägte auch große Teile des Rests der Welt und vertiefte die Kluft zwischen Arm und Reich, brachte aber auch ungeheuren materiellen Reichtum. Die Städte wurden immer attraktiver: heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten, viele davon in Megastädten mit über 10 Millionen Einwohnern.

Walzwerk (Ölgemälde von Adolph Menzel)

Industriearbeit in einem Walzwerk (Ölgemälde von Adolph Menzel, entstanden 1872 bis 1875): Die Arbeitsbedingungen in der Frühzeit der Industrialisierung waren oftmals katastrophal. Abb. aus >> wikipedia (abgerufen 30.8.2011), gemeinfrei.

Am Ende das Agrarzeitalters hatten gerade 3 Prozent der Menschheit in Städten gewohnt, die größten Städte im Jahr 1800 waren London, Edo (das heutige Tokio), Beijing und Kan­ton; in Deutschland lebten über 90 Prozent der Bevölkerung in Orten mit weniger als 5.000 Einwohnern, in den 18 “Großstädten” mit mehr als 20.000 Einwohnern lebten ins­gesamt weniger als eine Million Menschen. Von der Industrialisierung profitierten zuerst und am meisten die Stadtbewohner, und mit der Industrialisierung wuchsen die Städte und  ent­standen neue Städte: Baumwollstädte wie Lancashire, Zentren des Bergbaus und der Metall­verarbeitung wie Sheffield oder Manchester, Eisenbahnstädte wie Swindon. Vor allem die von der Industrialisierung geprägten Städte sahen ganz anders aus als die früheren Handels­städte; 1803 beschrieb die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer die Stadt Manchester, wo aufgrund der vielen Flüsse schon in vorindustrieller Zeit viele durch Wasserkraft angetrie­bene Baumwollspinnereien entstanden waren und dank des Bridge­water-Kanals früh Kohle in die Stadt gelangte: “Dunkel und vom Kohlendampfe eingeräu­chert, sieht sie einer unge­heuren Schmiede oder sonst einer Werkstatt ähnlich”, ihr englischer Kollege Charles Dickens berichtete von “Schmutz, Finsternis und Elend". Die Industrialisierung ging mit ungeheurer >> Luftverschmutzung einher. Im Laufe der Zeit prägte überall in Europa, wo man mit Kohle Maschinen antreiben konnte und eine eisen- und metallverarbeitende Industrie ent­wickeln konnte – zuerst in Belgien, im Ruhrgebiet und in Nordfrankreich – der Bergbau ganze Regionen und es entstanden Industriereviere. Neue Kanäle und Eisenbahnlinien durchzogen das Land. In Nordamerika wuchsen die Städte vor allem mit der Einwanderungs­welle ab 1840, es entstanden Industriestädte wie Pittsburgh; New York erreichte 1860 800.000 Einwohner.

Die Einwohnerschaft der Städte unterschied sich immer deutlicher, es entstand eine Trenn­linie zwischen dem reichen Bürgertum und dem armen "Proletariat" (wie die lohnabhängigen Arbeiter jetzt nach römischen Vorbild wieder genannt worden), die in unterschiedlichen Vierteln lebten. Die Arbeiter, die oft gerade erst der Leib­eigenschaft oder der Schuldknecht­schaft des Feudalismus entkommen waren, wurden vor allem in der Fabrikindustrie und den Bergwerken mit Lohnarbeit konfron­tiert: auf den ersten Blick ein Fortschritt gegenüber der feudalen Zwangsarbeit, aber wie Karl Marx mit seinem Wort vom >> doppelt freien Bauern aufzeigte, war dieser Fortschritt zweischneidig: die schiere Not zwang viele von ihnen in Arbeitsverträge, die nicht besser waren als die Zwangsarbeit zuvor. War ein Arbeits­vertrag geschlossen, war es mit der Freiheit nämlich vorbei: Die Arbeit in den arbeitsteiligen Fabriken – im Takt und Tempo der Maschinen –  erforderte eine ganz andere Disziplin als etwa die Heimarbeit zuvor, Aufsicht und Ausführung der Arbeit fielen auseinander; und Verstöße wurden mit Geldstrafen, Androhung der Kündigung und sogar mit körperlicher Züchtigung geahndet. Die Arbeits­zeiten waren extrem lang, 13 bis 16 Stunden am Tag keine Seltenheit. Zwar wurde die Arbeit in den Fabriken besser bezahlt als in der Landwirtschaft, aber in den neu entsteh­enden Städten verdienten daran vor allem Spekulanten, die Häuser bauten und Wohnungen teuer vermieteten; so teuer, dass auch die Kindern arbeiten mussten – besonders gerne wurden sie in Textilfabriken, wo sie die Spinnmaschinen reinigen mussten, und in den Berg­werken, wo sie in die kleinsten Stollen passten, eingesetzt. Die Frühzeit des Kapitalismus war auch von Not und Elend in den Industriestädten geprägt (siehe >> Der Kampf gegen die Infektionskrankheiten).

1842 bis 1844 lebte der Wuppertaler Fabrikentensohn Friedrich Engels fast zwei Jahre lang in Manchester, wo er in einer Baumwollspinnerei seines Vaters arbeitete und abends und am Wochenende die Stadt erkundete. Er schrieb hierüber später das Buch “Die Lage der arbei­ten­den Klasse in England”, in dem er nicht nur von Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche berichtet und von unerträglichen hygienischen Verhältnissen in der Stadt, in der Tuberkulose, Typhus und Scharlach grassierten, sondern auch von einer großen Anzahl Verstümmelter – Maschinen wurden oft im laufenden Betrieb geputzt, Ver­letzungen oder Tote waren dabei nicht selten. Er lernt auch die Organisationen kennen, die die Lage der Arbeiter verbessern wollen, wie die von Robert Owen inspirierten Sozialisten. (Robert Owen, Leiter einer Baumwollspinnerei, hatte schon 1799 zeigen wollen, dass auch mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen Gewinne zu machen sind: Er senkte die Arbeits­zeit auf 10,5 Stunden am Tag und verbot in seiner Spinnerei die Beschäftigung von Kindern unter 10 Jahren. Tatsächlich waren Owens Änderungen ein Erfolg – auch, weil Owen viele Erfindungen machte, die seine Konkurrenz nicht so schnell umsetzen konnten. Owens Spinnerei wurde zum Musterbetrieb, den auch zahlreiche Politiker besuchten.) Auf der Rück­reise nach Deutschland lernte Engels in Paris Karl Marx kennen, den er später über Jahr­zehnte finanziell über Wasser halten sollte und so die Arbeit an seinem Hauptwerk “Das Kapital” ermöglichte, dessen zweiten und dritten Band Engels nach Marx’ Tod aus dem Nachlass herausgab (siehe >> unten).

Die soziale Frage in den Industrieländern

Die „soziale Frage“ war von Anfang an mindestens in zwei Richtungen zu verstehen: Die eine beschäftigte sich mit der Summe der Umgestaltungen, die die Industriegesellschaft gegenüber traditionellen Lebensformen bewirkte, etwa die Verdrängung von Gemeinschaft und sozialen Bindungen durch Marktbeziehungen (oft war diese Sorge aber auch verbunden mit der Idee von der Wiederherstellung einer ständischen Gesellschaft). Die andere konzen­trierte sich auf die Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern, etwa um die Verteilung der erwirtschafteten Gewinne (in Form von höheren Löhnen oder kürzeren Arbeitszeiten). Natürlich hingen beide zusammen: Der Wandel der Gesellschaftsordnung, den die Industria­li­­sierung und die zunehmende Marktorientierung auslösten, hatten erst einen freien Markt für Arbeit (und damit die Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern) geschaffen; und auch einen Markt für Grund und Boden: der Gemeinbesitz der Dörfer wurde zunehmend eingefriedet und zu privatem Grundbesitz gemacht. Reich gewordene Grundbesitzer inves­tierten in die Industrie, verelendete Bauern konnten sich dort als Arbeiter verdingen.

Die Privatisierung der Gemeinschaftsgüter

Dass eine Zunahme des Privateigentums auf Kosten der Gemeinschaftsgüter erfolgte, wie bei der Einfriedung beim Grund und Boden deutlich erkennbar, hatte schon im 17. Jahr­hundert den englischen Philosophen John Locke nachdenklich: Da Gott die Erde allen Menschen gegeben habe, dürfe der einzelne nur soviel aus der Natur nehmen, wie er für seinen Unterhalt braucht und sich durch Arbeit aneignen kann. Vorausgesetzt, dass “genug und ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt.” Diese Einschränkungen galten mit zunehmender Marktorientierung nicht mehr; aber immer wieder erkannten Beobachter, dass diese Umwandlung nur eine Minderheit begünstigte: So schrieb etwa Thomas Paine, einer der Gründerväter der USA, in seinem 1795/96 geschriebenen Buch “Agrar-Gerechtigkeit”, dass die Einrichtung von Landeigentum die große Mehrheit der Menschen von ihrem Naturerbe und der Möglichkeit eines unabhängigen Überlebens fernhalte. Paine schlug vor, dass jeder Bürger eine Entschädigung für die verlorenge­gangenen natur­rechtlichen Ansprüche erhalten soll (eine Einmalzahlung am 21. Geburtstag und ab dem 50. Lebensjahr eine Entschädigung von 10 Pfund Sterling jährlich – manche sehen Paine daher als Vorläufer der späteren social security in den USA).

Noch heute weisen viele Kritiker (etwa >> Peter Barnes) darauf hin, dass das gewaltige Kapital, das für die Industrialisierung nötig war, vor allem durch die Aneignung (oder auch “Diebstahl”) von Gemeineigentum zusammenkamen –  erstaunlicherweise, ohne dass die meisten Menschen dies auch nur bemerkt hätten. Die Gemeinschaftsgüter sollten noch eine weitere wichtige Rolle bei der Industrialisierung spielen: Da die Industrie ihre Abgase, Abwässer und Abfälle kostenlos in Luft, Flüsse und ungenutzte Landschaft – ebenfalls alles Gemeinschaftsgüter –  deponieren konnte, brauchte sie für deren Zerstörung nichts zu zahlen, so dass diese Kosten bis heute als “externe Effekte” vernachlässigt wurden (>> hier). Für Barnes haben die Probleme auch damit zu tun, dass die neuen Privateigen­tümer zunehmend gar keine Unternehmer mehr waren, sondern Kapitalgesellschaften: Während Unternehmer wenigsten noch als Person für ihr Handeln einstehen müssen, dienen Kapitalgesellschaften nicht anderem als dem Maximieren von Renditen für Aktio­näre, und ihre Manager werden auch nur daran gemessen. Rechtlich sind diese ihren Aktionären verpflichtet, aber wirklichen Einfluss haben nur einige Großaktionäre – und das sind wiederum oftmals Investmentfonds, die ebenfalls nur an der Rendite gemessen werden. Wie immer: Wenn viele verantwortlich sind, übernimmt letztlich niemand die Verantwortung.

Kapitalgesellschaften verfügen außerdem über riesige Geldmengen, die sie nicht nur für die Produktion einsetzen, sondern auch, um politischen Einfluss zu erlangen. So finanzieren sie eine riesige Lobbyindustrie. Dieser politische Einfluss sorgt dann auch dafür, dass Regelungen, die den freien Markt zugunsten der Allgemeinheit einschränken – etwa der Verbot, bestimmte Schadstoffe in die Atmosphäre abzugeben, oftmals verspätet oder abgeschwächt getroffen werden (denken Sie etwa an den Widerstand der Autoindustrie gegen die Einführung bleifreien Benzins, des Katalysators oder aktuelle gegen niedrigere Verbrauchsgrenzwerte). Da nach den Gesetzen des Marktes Gewinne auf Grundlage der gehaltenen Anteile verteilt werden, fließt Geld nach oben – wer schon hat, dem wird gegeben. Daher werden die Kapitalgesellschaften immer größer und mächtiger: In den USA umfassten die Umsätze der 500 größten Unternehmen im Jahr 1955 ein Drittel des Brutto­inlandsproduktes, im Jahr 2004 schon zwei Drittel. Ihr Einfluss wird daher immer größer.

Die Entstehung einer Arbeiterbewegung

Auch wenn die "freie" (Lohn-)Arbeit sich anfänglich nur graduell von der Zwangsarbeit unter­schied, eins hatte sich mit ihr doch geändert: die Machtverhältnisse zwischen Unter­nehmern und Lohnarbeitern waren zwar ungleich, aber nicht-ökonomische Zwänge weniger bedeutsam geworden. Auch wirkten die Erkenntnisse der Aufklärung und die Ideen von natürlichen Rechten aller Menschen weiter. Die Staaten versuchten, mit Reformen eine Wiederholung der Ereignisse von 1789 zu verhindern, so wurde im britischen "Great Reform Act" die Zahl der Wahlberechtigten von 400.000 auf 650.000 (etwa jeder fünfte erwach­sene Mann) erhöht. Auch die Arbeiter konnten sich zur Wehr setzen und – individuell oder kollektiv – für Verbesserungen kämpfen. Zum einen schlossen sie sich zusammen, um sich etwa im Krankheitsfall gegenseitig zu unterstützen, um anderen setzten sie sich gegen die Zustände zur Wehr. Ein Beispiel ist der schlesische Weberaufstand von 1844 (der unter anderem Gerhard Hauptmanns Drama “Die Weber” inspirierte). Arbeitervereine waren in Deutschland seit den 1840er Jahren entstanden; im Vereinigten Königreich hatten sich schon 1829 die Spinnereiarbeiter in einer Generalunion – der ersten Gewerkschaft – zu­sammengeschlossen. Teils bewaffnete soziale Unruhen und Generalstreiks, die mitunter blutig niedergeschlagen wurden, begleiteten die Frühphase der Industrialisierung. 1848 kam beides – der Ruf nach Reformen in der Gesellschaft und die Unzu­friedenheit in der Arbeiter­schaft – zusammen: als der französische König ein reformistisches Bankett verbot, kam es zu den Demonstrationen der "Februarrevolution", der sich auch Heer und Nationalgarde anschlossen. Die Welle erfasste halb Europa, auch in Berlin, Wien, Budapest und Rom etwa kam es zu Aufständen. Als im Juni die Pariser Nationalwerkstätten (in denen Arbeitslose beschäftigt wurden) geschlossen wurden, kam es zu einem erneuten Aufstand. Die Mittel­schicht war aber nicht bereit, eine offene Revolution zu wagen: Heer und National­garde stellte sich jetzt gegen die Arbeiter, und es gab mindestens 3.000 Tote. 15.000 Arbeiter wurden anschließend in Straflager verbannt. Einzige Errungenschaft war in Frankreich die Wiedereinführung des auch von der Mittelschicht geforderten allgemeinen Wahlrechts für Männer. Auch die anderen europäischen Aufstände wurden allesamt niedergeschlagen. (Das allgemeine Wahlrecht für Männer – eine der Forderungen von 1848 – wurde 1870 in den USA eingeführt und galt ab 1871 auch im Deutschen Reich, allerdings erst ab einem Alter von 25 Jahren. Das erste Land, das das Wahlrecht auch für Frauen einführte, war 1893 Neuseeland, in Europa waren Finnland (1907) und Norwegen (1913) die Vorreiter.)

Die Rechte der Frauen

Wählen durften Frauen Ende des 19. Jahrhundert nur in Neeseeland und South Australia, wo das Frauenwahlrecht 1894 eingeführt wurde. Dass Frauen im öffentlichen Leben einen ganz anderen – schlechteren – Status hatten als Männer, war ein Erbe der konservativen Gesellschaften des Agrarzeitalters. Die Frau galt mehr oder weniger als Eigentum des Mannes, der sie in vielen Ländern auch schlagen durfte (solange er sie dabei nicht um­brachte), auch ihr bewegliches Eigentum gehörte ihren Ehemännern, auch das Geld, das sie womöglich verdiente. Scheidungen waren lange fast unmöglich (in ganz England gab es von 1700 bis 1857 , in dem die Ehe zu einem weltlichen Vertrag wurden, im Durchschnitt zwei Scheidungen pro Jahr).

Seit 1833 erlaubte das neu gegründete Oberlin College im US-Bundesstaat Ohio als erste Hochschule Frauen den Besuch von Vorlesungen, seit 1837 konnten sie auch Abschlüsse erwerben. 1849 machte Elizabeth Blackwell am New Yorker Geneva Medical College als erste Frau einen Abschluss als Ärztin, in Europa verteidigte 1867 eine Russin erfolgreich ihre Doktorarbeit an der Universität Zürich. In Deutschland konnte 1880 die Britin Hope Bridges Adams als erste Frau ihr Medizinstudium mit einem Staatsexamen in Leipzig ab­schließen, das jedoch nicht anerkannt wurden, so dass sie in Bern ihren Doktor machte und schließlich mit einer irischen Zulassung (Approbation) in Deutschland praktizierte. In England konnten Frauen seit 1878 auch Universitätsabschlüsse machen (am University College London, aber die Universität Cambridge beispielsweise verlieh bis 1948 keine Ab­schlüsse an Frauen). 1903 erhielt Marie Curie (>> Eine kleine Geschichte der Atom­kraft) als erste Frau einen Nobelpreis (und 1911 erneut – sie war der erste Mensch, der einen zweiten Nobelpreis erhielt). (Nebenbei: Marie Curie war nur deshalb nach Paris ge­gangen, wo sie die mit dem Nobelpreis gekrönten Arbeiten durchführte, weil die Universi­tät Krakau in ihrem Heimatland Polen keine Frauen aufnahm.)

Mehr als von der höheren Bildung, die selten zur Anerkennung von Frauen als gleich­berechtigte Mitglieder in den jeweiligen Fachkreisen führte, profitierten Frauen von der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (die in Preußen schon 1717, aber etwa in den USA erst nach 1851 und in England erst 1880 eingeführt wurde): diese galt in der Regel für alle Kinder, und führte dazu, dass Frauen ebenso gut lesen und schreiben lernten wie Männer, in manchen Ländern wie Kanada sogar besser. Der nächste Fortschritt kam – gänzlich unbeabsichtigt – mit dem Ersten Weltkrieg, dem ersten "totalen Krieg", der die Ressourcen der ganzen Nation in den Krieg einbezog: die Männer waren an der Front, also "durften" die Frauen in den Munitionsfabriken arbeiten. Viele hatten damit zum ersten Mal eine bezahlte Arbeit, und durften auch ohne männliche Begleitung reisen. Auch wenn es sicher die eine oder andere Auseinandersetzung gab, als die Männer aus dem Krieg zurückkehrten (wenn sie denn zurückkehrten), ließen sich diese Freiheiten nicht rückgängig machen – nach dem Ersten Weltkrieg erhielten die Frauen z.B. auch in Deutschland das Wahlrecht. (In den Ländern, wo dies nicht so war, geschah das dann nach dem Zweiten Weltkrieg – etwa in Frankreich, Italien oder Japan.)

Im Jahr der Aufstände 1848 war auch  Marx' und Engels gemeinsam verfasstes „Kommu­ni­stisches Mani­fest“ erschienen, das den Untergang des Systems durch die Revolution der Arbeiterklasse voraussagte – das Buch wurde zum Weltbestseller. Wissenschaftlichen An­spruch hatte Karl Marx’ ab 1867 erscheinendes Hauptwerk >> „Das Kapital“: Für Marx war der Drang, die Natur zu gestalten, das Merkmal des Menschen; die Arbeit damit Aus­druck des menschlichen Wesens. Mit der Lohnarbeit und der Arbeitsteilung verliere der Mensch die Verfügungs­gewalt über die Arbeit, sein wahres Menschsein werde dadurch zer­stört. Da die gesell­schaftlichen Beziehungen zwischen konsumierenden und produzie­renden Menschen statischer seien als die Produktivkräfte, also die Arbeitsgeräte, Maschinen und das Wissen und Können der Arbeiter, würden die Spannungen so groß werden, dass die gesellschaft­lichen Verhältnisse umgestürzt würden. Die Klasse der Lohnarbeiter werde immer zahlreicher und die durch Konzentrationsprozesse immer kleiner werdende Kapita­listen­klasse entmach­ten. Da die Lohnarbeiter damit die Produktionsmittel in die Hand bekämen, würde die Arbeit selbstbestimmt und der Mensch würde sich endlich selbst verwirklichen können.

Es sollte anders kommen. Die Arbeiterbewegung wurde zwar stärker – in Sachsen wurde beispielsweise 1863 mit dem "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" eine erste Massen­partei der Arbeiter gegründet wurde; 1864 entstand in London die Internationale Arbeiter-Assoziation. 1875 vereinigte sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit der 1869 in Eisenach gegründeten "Sozialdemokratische Deutsche Arbeiterpartei" zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (die sich 1890 in Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands, SPD, umbenannte). Andererseits wurden, wie von Marx vorhergesehen, die Unternehmen immer größer, aber damit wurde die Kapitalistenklasse nicht kleiner – viel­mehr wurde sie um Manager und leitende Angestellte erweitert (siehe >> unten). Die Mittel­schichten verschwanden nicht, wie von Marx vorausgesehen, sondern wuchsen stärker an als die Industriearbeiterschaft. Aus dieser stiegen zudem qualifizierte Facharbeiter in die Mittelschichten auf.

In den 1870/1880er Jahren hatten die Nationalstaaten ausreichend Gestaltungskraft ge­wonnen, mit der sie auch in Wirtschaft und Gesellschaft eingriffen. Als Reaktion auf den  >> Gründerkrach, der an wirtschaftsliberalen Ideen zweifeln ließ, und auch aus Angst vor der erstarkenden sozialdemokratischen Bewegung – die Reichskanzler Bismarck in Deutschland 1878 mit einem "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (Sozialistengesetz) verbieten wollte – erließ derselbe Bismarck (sozusagen als Zuckerbrot zur Peitsche) in Deutschland eine Sozialgesetz­gebung: seit 1883 sind Arbeiter in Deutsch­land krankenversichert, seit 1884 unfall­ersichert und seit 1889 altersversichert. Bismarcks Sozialgesetzgebung wurde in vielen anderen Ländern übernommen und gilt als Beginn des Sozialstaats. In Deutschland führte sie aber nicht (wie erhofft) dazu, die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie zu entfremden, sondern eher dazu, diese zu radikalisieren und ein von der bürgerlichen Gesellschaft abgeschlossenes "sozialdemokra­tisches Milieu" zu schaffen. 1890 lehnte der Reichstag die Verlängerung des Sozialisten­gesetzes ab, die Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands nannte sich daraufhin in Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands, SPD, um. Diese strebte nach intensiver Debatte nicht mehr an, den Kapitalis­mus durch eine Revolu­tion zu besiegen, sondern ihn durch Reformen zu verbessern. Dazu trugen auch steigende Löhne bei, durch die auch Lohnarbeiter so weit vom materiellen Reichtum profitierten, dass sie im Ganzen eher an pragmatischen Verbesserungen ihrer Lage als an revolutionären Umstürzen interessiert waren. (Der Marxismus wurde in keinem Land durch einen Aufstand der Arbeiterklasse an die Macht gebracht; und die Sowjetunion und China waren zum Zeit­punkt ihrer „Revolutionen“ nicht einmal Industriestaaten.) Und in den Industrieländern hat der Industriekapitalismus insbesondere den Menschen, die nicht der Oberschicht angehören, einen materiellen Lebensstandard und eine (gesunde) Lebensdauer ermöglicht, für die es keinen historischen Vergleich gibt.

Leben in einer Industriegesellschaft

Die materielle >> Produktivität der Industrie führte vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zu nie gekanntem materiellen Reichtum in den Industriegesellschaften. In diesen Ländern besitzen heute die Armen mehr materielle Güter als die Reichen vor der Industrialisierung. Die Symbole dieser Warengesellschaft war die Entstehung der ersten Warenhäuser: Bon Marché in Paris, Hermansky in Wien, Tietz in Berlin. Im 20. Jahrhundert entstanden die ersten Supermärkte, die Lebensmittel anboten, und schließlich Einzel­handels­konzerne wie Wal Mart oder Carrefour, die Einkaufszentren außerhalb der Städte aufbauten.

Nachdem die Menschen ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Kleidung so befriedigen konnten, entstanden immer neue Märkte: Etwa gleichzeitig kämpften das >> Auto und die elektrischen Haushaltsgeräte um den Geldbeutel der Verbraucher, als auch hier die Märkte weitgehend gesättigt waren, folgte die Unterhaltungselektronik: Radios, Fernseher, Videorekorder und heute DVD-Player, Fernseher mit Flachbildschirmen, MP3-Player, Digitalkameras, ... Der Zugang zu diesen Produkten wurde durch Kreditangebote erleichtert: Ratenkauf, Verbraucherkredite und Kreditkarten ermöglichten den Kauf über die Verhältnisse hinaus; immer mehr Produkte, die in früheren Jahrzehnten nur den Reichen zur Verfügung standen, wurden Massenware. Ein Beispiel sind Fernreisen.

Ohnehin entwickelte sich der Freizeit- und Tourismussektor zum nächsten Gewinner: In England entstand 1885 die erste professionelle Fußballliga, bald bezahlten 300.000 Menschen jede Woche Geld, um bei einem Fußballspiel zusehen zu dürfen. Anfang des 20. Jahrhundert entstanden Kinos, 1869 bereits hatte Thomas Cook die erste außer­europäische Reise (nach Ägypten und Palästina) angeboten, 1900 erschien der erste Michelin-Reiseführer. Das Flugzeug gewann ab den 1950er Jahren an Bedeutung. Heute ist Tourismus einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Welt.

Dabei zeigen aber Befragungen und andere Indikatoren –  die Zahl der Selbstmorde, die Zahl der Depressionen – dass die Menschen durch allen materiellen Wohlstand ab einer bestimmten Schwelle nicht glücklicher werden (>> mehr). Da gleichzeitig die Herstellung all der Produkte und Dienstleistungen die natürlichen Lebensgrundlagen gefährden (siehe links >> hier), hat die Suche nach einem neuen Lebensmodell längst begonnen (>> mehr).

Der Aufstieg des Managerkapitalismus

In der Frühzeit der Industriellen Revolution waren Eigentümer und Unternehmer zumeist identisch: Der Eigentümer besaß das Unternehmen und leitete es. Wenn das eigene Kapital nicht ausreichte, wurde es oft im Familien- und Verwandtenkreis eingesammelt, viele Unter­nehmen wurden auch von mehreren Familienmitgliedern geleitet (etwa das Bankhaus Roth­schild oder Siemens). Über ihre Familien waren diese frühen Kapitalisten eng mit ihrem sozialen Umfeld verbunden. In solchen Familienunternehmen war der Gewinn in aller Regel nicht das alleinige Erfolgskriterium; mitunter wurden etwa mögliche Expansionen nicht wahrgenommen, um den Familieneinfluss zu erhalten. In kleinen und mittelgroßen Unter­nehmen findet man diese Konstellation immer noch; aber bei vielen Großunternehmen reichte das Familienkapital nicht aus, um mit der Entwicklung Schritt zu halten: Siemens etwa hatte 1874 noch 650 Mitarbeiter, 1914 bereits über 57.000. Neue Industrien wie die Elektrotechnik wuchsen schnell, und nach dem >> Gründerkrach von 1873 kam es auch zu Zusammenschlüssen in Form von Kartellen, Holdings oder Konzernen – mit ihnen sollte die Konkurrenz begrenzt oder sogar ausgeschaltet werden. Diese Großunternehmen gehör­ten in vielen Fällen keinem einzelnen Eigentümer mehr, sondern gehörten – über Aktien­besitz – zum Beispiel den Banken, die nun stärker als früher in die Industrie investierten. Viele dieser Konzerne waren zudem hochgradig integriert und hatten von der Rohstoff­versorgung über die Produktion bis hin zum Vertrieb alle Schritte der Produktherstellung in der Hand.

Damit veränderte sich aber das Unternehmen: War zuvor der Markt das zentrale Koordina­tionsinstrument gewesen, mussten die Tätigkeiten der Konzerne auch im Inneren koordiniert werden; die Unternehmensorganisation und damit angestellte Manager gewannen an Bedeutung. Da nun nicht mehr Eigentümer(-Familien) die Ausrichtung der Unternehmen bestimmten, sondern stärker am Gewinn orientierte Investoren und die leitenden Manager zum Teil erfolgsabhängig bezahlt wurden, fürchteten viele, dass das unternehmerische Handeln im Managerkapitalismus rücksichts- und verantwortungsloser (da ein angestellter Manager kaum mit seiner gesamten Existenz für Verluste einstehen werde) werden könnte. Familienbezogene Rücksichten nahmen sicher auch ab, aber schließlich standen auch ange­stellte Manager oftmals mit ihrem Namen für den Unternehmenserfolg (etwa Emil Rathenau für die AEG), aber waren eben auch mit Misserfolgen sichtbar verbunden, so dass wirtschaft­liches Handeln immer noch so weit in einen sozialen Zusammenhang eingebettet blieb. Es konnte noch nicht generell von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ geredet werden.

Der Aufstieg des Finanzkapitalismus

Das änderte sich, als sich im Gefolge der ersten >> Ölkrise von 1973 >> neoliberale bzw. marktkapitalistische Ideen wie die von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman vor allem in Großbritannien und den USA durchsetzen und die staatliche Regu­lierung abgebaut wurde: Dies, und das Ende des >> Bretton-Wood-Systems der inter­nationalen Währungsstabilisierung, führte zu neuen >> Geschäftsmodellen für Banken und einem raschen Anwachsen des Finanzsektors, dessen Bedeutung am wirtschaftlichen Gesamtprodukt deutlich wuchs: In den USA etwa von den 1950er Jahren bis 2008 von zwei auf acht Prozent. Dabei verlor er seine einst dienende Funktion – die Finanzierung von Investitionen in produktive Zwecke – und wurde zum Selbstzweck: es wurde spekuliert – Geld sollte Geld verdienen; die Profite stammten nicht mehr daraus, dass Werte geschaffen wurden. Aber die Gewinne stiegen exorbitant an; so dass auch große Industrieunternehmen bald eigene Finanzdienstleister gründeten, die schnell mehr Geld verdienten als das Kern­geschäft. Die Profite des Finanzsektors führten auch dazu, dass zahlreiche Kapital­beteili­gungs-Gesellschaften entstanden, etwa Investment- und Pensionsfonds.

Diese Fonds mussten aber ihre Anleger im Wettbewerb mit anderen Fonds gewinnen, und das Kriterium für die Anleger war in der Regel der erzielte Gewinn. Die Fonds konnten ihn steigern, indem sie einerseits Aktien schneller kauften und verkauften, und andererseits ihre Interessen – im Namen der Anteilseigner – deutlich gegenüber den Unternehmensleitungen vertragen. So verloren die Manager produzierender Unternehmen an Macht, die sie gegen­über den an langfristigen Erfolg orientierten Banken (zumindest, solange die Geschäfte gut liefen) oder bei zersplitterter Eigentümerstruktur noch hatten; das Interesse der Anteils­eigner ("shareholder value") wurde zum wichtigsten Maßstab, an dem sie gemessen wurden. Nicht-ökonomische Werte und Zusammenhänge wie die Traditionen der Unter­nehmen, Inhalte oder die Interessen der Mitarbeiter zählten nur insofern, als sie dem shareholder value dienten. Mit den Investmentbankern, Analysten und Rating-Experten gewannen rein nach der Logik der Finanzmärkte arbeitende Finanzmanager ohne soziale Einbindung immer mehr Einfluss auf das Wirtschaften von Unternehmen; die Deregulierung erlaubte zudem, dass die Gewinne der Kapitalanlagegesellschaften reinvestiert, sondern an Manager und Anteilseigner ausgeschüttet wurden.

Ein Gesicht in der Öffentlichkeit hatten diese Investmentbanker, Analysten und Rating-Experten aber nicht; und ihre rein ökonomische Logik wurde auch kritisiert. Aber vielen galt der >> Zusammenbruch des Ostblocks auch als Beweis für die Überlegenheit des Marktkapitalismus. Die Existenz einer nicht-kapitalistischen Alternative hatte zudem bis dahin dazu geführt, dass Vertreter der Kapitalseite und ihnen nahestehende Politiker Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ein Stück weit entgegenkamen, um so noch radikaleren Veränderungen vorzubeugen. Vor allem international und vor allem im Bereich der Finanzwirtschaft nahm die Deregulierung weiter zu; und führte zu einem Ausmaß an „organisierter Verantwortungslosigkeit“, den die >> Finanzkrise von 2008 deutlich zeigte: für die Folgen seiner Entscheidungen wollte (und konnte) der Finanzsektors nicht eintreten, so dass letztendlich die exorbitanten Gewinne der Bankmanager durch öffentliche Finanz­mittel getragen werden. Und ein handlungsfähiges, grenzüberschreitendes politisches Entscheidungssystem, das den global tätigen Finanzsektor wieder in einen sozialen Zusammen­hang einbettet und zu einer Übernahmen von Verantwortung – auch für nicht-ökonomische Werte – zwingt (ähnlich etwa den staatlichen Regelungen, die einst die Lage der Arbeiter verbesserten), ist nach wie vor nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die einseitige ökonomische Logik unter dem Druck durch die Globalisierung führen dazu, dass Manager­gewinne steigen, während auch in den am weitesten entwickelten Industriegesellschaften informelle, weitgehend ungeschützte Arbeitsverhältnisse wieder zunehmen. So arbeiten in Deutschland etwa 1,7 Millionen Menschen für einen Stundenlohn von weniger als 5 Euro die Stunde. Mindestlöhne werden dadurch umgangen, dass die Betroffenen Werkverträge (für die es keinen Mindestlohn gibt) erhalten oder bei Scheinfirmen, die im (ost-)europäischen Ausland (für die das dortige Recht gilt) ansässig sind, beschäftigt werden. In den Ländern, die gerade die Phase der Frühindustrialisierung durchlaufen, bedienen sich auch westliche Konzerne gerne mittels "outsourcing" lokaler Subunternehmer, die fundamentale gesetzliche Vorschriften oder Sozial-, Sicherheits- und Umweltstandards häufig umgehen oder ignorieren.

Die Auswirkungen auf den Rest der Welt

Die Industrielle Revolution beruhte von Anfang an auf Rohwaren aus der ganzen Welt: Die Baumwolle für die englische Textilindustrie kam aus dem Süden Amerikas und aus Indien, später auch aus Ägypten und anderen afrikanischen Ländern; Färbestoffe und -techniken kamen aus Indien und dem Ottomanischen Reich. Im Gegenzug kamen fertige Produkte zurück. Vor der Industriellen Revolution stellten die meisten Länder ihre eigene Kleidung her; im Jahr 1700 war Indien der weltgrößte Textilexporteur. Mit dem Aufstieg der englischen Textilindustrie wurden all diese weniger effizienten Hersteller vom Markt verdrängt: Die Bevölkerung des indischen Textilzentrums Dhaka (im heutigen Bangladesch) sank von 1750 bis 1850 um mehr als die Hälfte, das persische Isfahan verlor von 1830 bis 1890 90 Prozent seiner Seidenspinnereien. Anderen Branchen ging es ähnlich: Englische Metallwaren waren billiger als die aus Asien, Afrika oder Lateinamerika und verdrängten sie aus großen Teilen des Marktes.

England kaufte nicht nur Rohwaren, sondern auch Lebensmittel und andere Waren (Getreide aus Amerika und Russland, Holz aus Kanada und dem Baltikum, Schafe aus Australien, Rindfleisch aus Argentinien und Nordamerika, Tee aus Indien und China, Kaffee und Zucker aus der Karibik, ...). Mit den Erfindungen der Industriellen Revolution, dem Dampfschiff, der Eisenbahn, den Lastkraftwagen und später den Flugzeugen und ihrer Verknüpfung zu einem schließlich globalen Verkehrsnetz nahm der Waren- und Personenverkehr stetig zu. Viele der Erzeugerländer sahen ihre Zukunft nicht wie die europä­ischen Nachbarn Englands in ihrer eigenen Industrialisierung, sondern als Lieferant von Agrarprodukten für die Industrieländer. Mit den schnellen Verkehrsmitteln konnten Lebens- und Genußmittel in immer größeren Mengen und immer weiter transportiert werden, ebenso wie Maschinen, Werkzeuge, Dünger und Pestizide zu ihrem Anbau. Das führte zu einer globalen Speziali­sierung in der Landwirtschaft: Warum sollte man etwa in den hügeligen Regionen Englands Weizen anbauen, wenn dieser billiger aus Kansas zu importiert werden konnte? So trug die Industrielle Revolution zur globalen Industrialisierung der Landwirtschaft bei. Das ermöglichte ein nie gesehenes Bevölkerungswachstum der Menschheit, damit wurde die Nahrungsmittelversorgung aber auch von fossilen Brenn­stoffen für die Maschinen, die sie erzeugte und für die Fahrzeuge, die sie transportierten, abhängig – ohne fossile Brennstoffe wären die meisten Menschen auch in den Industrie­ländern heute wieder vom Hunger bedroht.

Zur Versorgung der Industrieländer müssten in den Lieferländern neue Gehöfte und Planta­gen angelegt werden, und Arbeitskräfte wurden gebraucht. Oft wurden diese gekauft. Das frühe Industriezeitalter führte daher außerhalb Westeuropas zunächst nicht zu einem An­stieg der Lohnarbeit, sondern zu einer Blüte der Sklaverei: In Amerikas Süden arbeiten Sklaven in der Baumwollproduktion, in Brasilien auf Kaffee- und Zucker­plantagen; in Russ­land und Osteuropa arbeiteten Leibeigene auf den Getreidefeldern, und in Westafrika in der Palmölproduktion. Zwar äußerten sich seit den 1780er Jahren immer mehr Menschen gegen die Sklavenhaltung; aber bis zu ihrer Abschaffung sollte es >> noch 80 Jahre dauern. Die Abschaffung der Sklaverei befreite unter anderem vier Millionen Menschen in den USA, eineinhalb Millionen in Brasilien – und 50 Millionen Leibeigene in Russland. Aber das führte noch immer nicht zu einem Sieg der Lohnarbeit. Neue Arbeits­kräfte wurden auch in den armen Regionen der Welt gesucht: Vor allem Indien und China lieferten jetzt Arbeitskräfte – 30 bis 40 Millionen Inder arbeiteten vor allem im Britischen Empire, chinesische “Kulis” gingen vor allem auf die Plantagen Südostasien, aber auch zum Eisenbahnbau nach Nord­amerika und Kanada. Im Gegenzug für die Bezahlung der Überfahrt verpflichteten sich diese Menschen oft zu einer "Vertragsknechtschaft", die dem Arbeit­geber oft jahrelang eine nahezu unbeschränkte Verfügungsgewalt über den Vertragspartner verlieh. Das traf nicht nur Inder und Chinesen: auch die armen Regionen Europas verließen ab 1840 etwa 50 bis 60 Millionen Menschen; 70 Prozent von ihnen gingen nach Nord­amerika, aber vor allem Italiener, Spanier und Portugiesen auch nach Argentinien und Brasilien.

Eine Arbeiterbewegung wie in Westeuropa entstand im 19. Jahrhundert nur in den USA (wo die Gewerkschaften allerdings zunehmend auch zu einer Schutzgemeinschaften der Fach­arbeiter gegenüber [ungelernten] Einwanderern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern wurden). Das zeigt, dass diese nicht zwangsläufig aus dem Spannungsfeld Kapital – Arbeit hervorgeht, sondern auch von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängt: Die freiheit­lichen Verfassungsordnungen seit dem 18. Jahrhundert begrenzten in Westeuropa die Wahrnehmung des Eigeninteresses der wirtschaftliche Starken und erlaubten – bei allen Einschränkungsversuchen wie Bismarcks Sozialistengesetz – ein gemeinschaftliches Handeln der Arbeiter. Sklaven und Vertragsknechte hatten dieses Recht nicht. (Auch im heutigen China gab und gibt es zahlreiche Proteste der Lohnarbeiter, die durchaus den frühen Lohn­arbeitern in Westeuropa vergleichbar ausgebeutet und entwurzelt werden – aber eine überregionale Arbeiterbewegung ist dort nicht entstanden.)

Die oben beschriebene Entwicklung in den Kolonien hatte schon vor der Entstehung des Industriekapitalismus begonnen (siehe >> hier), die Abhängigkeit der Industrieländer von den Rohstoffen und Nahrungs­mitteln aus den Kolonien steigerte aber die Gewinne der exportorientierten Plantagenwirtschaft und führte damit zu einem weiteren Ausbau. Auch die Gewinne aus Sklavenhandel, Sklavenarbeit und anderer Formen der Zwangsarbeit wie der Vertrags­knechtschaft haben den Industriekapitalismus in seiner Frühzeit angetrieben, nicht nur die Ausbeutung der Lohnarbeiter. Eine Alternative hatten die Lieferländer kaum: Die Industrie­länder nutzten ihre industriellen Kenntnisse auch für die Herstellung von Waffen, und dampf­betriebene Kanonenboote und Maschinengewehre machten sie militärisch auch einer großen Übermacht gegenüber derart überlegen, dass Militäraktionen oft schon bei geringen Anlässen ausgelöst wurden. England hatte 1783 die Vereinigten Staaten verloren, aber verleibte sich von 1750 bis 1860 Indien stufenweise ein – zunächst mit Hilfe der East India Company, und später dann direkt. 1914 umspannte das >> Britische Empire die ganze Welt. Andere Industrieländer waren nicht besser: Frankreich eroberte Kolonien in Afrika und Indochina, Belgien in Afrika. Deutschland, obwohl durch seine späte Vereinigung im Jahr 1871 ein Nachzügler, zog in Afrika und im Westpazifik nach (mehr: >> Die Welt wächst zusammen).

Wachsende Ungleichheit

Die Kolonialisierung, der globale Austausch von landwirtschaftlichen Produkten und Indus­triewaren und die Auswanderung vieler Millionen Menschen – alle drei übrigens erleichtert durch die >> Erfindung des Telegrafen – führten zu einer ersten Globalisierung: Es entstand ein Weltmarkt, der durch den 1878 eingeführten >> Goldstandard (die Deckung von Währungen durch Gold) unterstützt wurde. Er machte einerseits Wirtschaftskrisen weltweit spürbar, führte aber auch zu enormem Wirtschafts­wachstum – von 1870 bis 1913 verdreifachte sich die Produktion nahezu. Gleichzeitig nahm die Ungleichheit zu: Vom neuen Reichtum profitierten vor allem die Industrieländer und einige besonders bevorzugte Agrar­regionen in den USA, Kanada, Argentinien und Australien. Diese Regionen sollten sich >> ebenfalls industrialisieren, andere wurden abgehängt. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts erhalten die ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung etwa ein Prozent des Welteinkom­mens, drei Milliarden Menschen leben von höchstens 2 US-$ am Tag. Das ist oft nicht genug, um ausreichend Essen zu kaufen (>> mehr).

Kulturelle Folgen

Mit dem weltweiten Verkehrsnetzwerk wurden nicht nur Waren exportiert, sondern auch Ideologien. Die westliche Welt sah ihre säkularen, materialistischen, egalitären und demokratischen Werte als die Krönung der Zivilisation und wollte den Rest der Welt damit beglücken. Auch das war nicht neu: schon der Erfolg der Kolonialisierung hatte europäische und amerikanische Missionare dazu verführt, ihren Glauben über die Welt zu verbreiten. Die Einheimischen hatte diesen oft mit ihren alten Religionen verschmolzen, wodurch neue Glaubensrichtungen entstanden. Die Sprachen der Kolonialherren – vor allem Englisch, Spanisch und Französisch – breiteten sich aus und einheimische Sprachen wurden seltener und starben oft ganz aus; mitunter schufen aber die zugewanderten Arbeiter eigene Sprachen als Gemisch aus ihren Ursprungssprachen (so gibt es auf den karibischen Inseln heute mehr als 25 kreolische Mischsprachen). Da sie Handelspartner und die Politiker in den Ländern des Südens, wenn sie sich nicht abschotten wollten, zumindest so tun mussten, als ob sie westliche Praktiken übernehmen wollten, waren sie dazu gezwungen, innerhalb weniger Jahrzehnte die wissenschaftliche, medizinische, landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung des Westens nachzuvollziehen. So entstanden in den Ländern Enklaven des Westens; im Jahr 2000 lebte zum Beispiel schon fast die halbe Menschheit in Städten.

Die Verstädterung der Menschheit

Ab Mitte der 1850er Jahre hatten die schlechten hygienischen Bedingungen in den Armenvierteln zu teils groß angelegten Stadt­sanierungen geführt: In Paris ließ George-Eugène Haussmann alte Viertel abreißen, ließ Straßen verbreitern und gliederte Vororte in die Stadt ein, in London führte eine Choleraepidemie und der Gestank aus der Themse, in die die Abwässer eingeleitet wurden, in der zweiten Hälfte zum Bau eines Kanalisations­systems. Gaslaternen beleuchteten zunehmend die Straßen der Städte, Straßen- und U-Bahnen (die erste wurde 1863 in London eröffnet – gezogen von einer Dampflok und ausgestattet mit Gaslampen) erleichterten die Bewegung in der Stadt.

Mit der Verbreitung des Autos (ab 1920 in den USA, ab 1950 in Europa) dehnten sich die Städte noch weiter in ihr Umland aus. Auch die neu entstehende Leichtindustrie wanderte oft hierhin ab. Neue Städte entstanden in den sich industrialisierenden Gesellschaften, so stieg der Anteil der Stadtbevölkerung in der Sowjetunion von 20 auf über 60 Prozent, Moskau wurde bis Ende des Jahrhunderts zur 6,5-Millionen-Stadt. In Japan entstanden Städte rund um Tokio, dessen Fläche sich von 1923 bis 1945 verdoppelte. Noch schneller wuchsen aber die Städte in den Entwicklungs- und Schwellenländern, wo Riesenstädte entstanden: Lagos in Nigeria, Nairobi in Kenia, Ankara in der Türkei. Vor allem aber erreichte Lateinamerika einen Verstädterungsgrad wie Europa oder Nordamerika (in Afrika und Asien leben “nur” ein Drittel der Menschen in Städten). Die Attraktivität der Städte hat hier vor allem damit zu tun, dass sich hier die wirtschaftliche Aktivität der Länder konzentriert und wenigstens eine minimale Infrastruktur besteht. Aber in vielem gleichen die Lebens­bedingungen denen der frühen Industriestädte; etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung lebt in Slums – weltweit über eine Milliarde Menschen. Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts – das ist die Pracht von New York oder Tokio ebenso wie die Slums von Lagos oder Kalkutta.

Die Verstädterung der Menschheit

Im Verlaufe des Industriezeitalters zogen immer mehr Menschen in die Städte. Im Jahr 2006 lebten erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Eigene Abbildung nach >> Clive Ponting: A New Green History of the World.

Gemeinsam ist all diese Städten aber, dass die Menschen in ihnen unter dem Lärm und in vielen Regionen auch noch unter der Luftverschmutzung der Last- und Lieferwagen zu ihrer Versorgung und der Autos zum Transport der Menschen leiden. Die Verkehrssystem führten zu einer Konzentration auf die Stadtzentren; Verkehrsverbindungen zu ihrer Versorgung hatten Vorrang vor den Fußgängern, Fahrradwegen und Gärten und anderen Lebensräumen. Gebäude und Straßen prägten die Umwelt des Menschen in den Städten, wo heute die Mehrheit der Menschen wohnt – vermutlich auch ein Grund für die Entfremdung des Menschen von der Natur. Dennoch blieben die Städte attraktiv; für die Reichen ist das Unterhaltungs- und Kulturangebot offenbar Kompensation genug für ihre Schattenseiten. Im 20. Jahrhundert stiegen die Mieten in den besseren Vierteln der Ballungsgebieten deutlich an; um all die Menschen, die in den Städten wohnen wollten, unterzubringen, wurde immer höher gebaut. Im Jahr 1990 war das Park Row Building in New York mit 119 Metern das höchste Wohngebäude, im Jahr 2000 war dieses – die Petronas Towers in Kuala Lumpur – schon 375 Meter hoch. Die ersten Megastädte entstanden noch als Folge der Industrie­entwicklung, etwa im Ruhrgebiet, dessen Einwohnerzahl 1939 4,5 Millionen Menschen betrug, oder das durch­gehend besiedelte Gebiet zwischen Tokio und Kobe in Japan. Heute gibt es auf der Erde 27 Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Diese Megastädte sind das extremste Beispiel der weitgehend künstlichen Umwelt, die sich der Mensch mit der Stadt geschaffen hat. Sie stellen eine besondere Konzentration des Energie- und Ressourcenverbrauchs dar – so verbraucht etwa der Sears Tower in Chicago mehr Strom als eine amerikanische Stadt mit 150.000 Einwohnern. Ohne eine aufwändige Infrastruktur – ohne U-Bahnen, Aufzüge, Klimatisierung und künstliche Beleuchtung – wären Megastädte kaum attraktiv.

Megacities und Ballungsgebiete der Erde

Siebenundzwanzig Ballungsgebiete und Megacities der Erde haben mehr als 10 Millionen Einwohner. Rot bedeutet: Hier leben über 20 Millionen Menschen, orange: über 15 Millionen Menschen, gelb-orange: über 10 Millionen Menschen. Eigene Abbildung.

Ökologische Folgen

Und die Industrielle Revolution hatte ökologische Folgen: Die städtische Luftverschmutzung erreichte nie zuvor gekannte Dimensionen, der Ausbau der Land­wirtschaft führte zu Ausweitung von Acker- und Weideland auf Kosten der Wälder, belastete die Böden mit Düngern und Pestizigen und zog riesige Bewässerungsprojekte nach sich, ver­schmutztes Wasser brachte Cholera- und Typhusepidemien. Diese Folgen werden umfassend auf den folgenden Seiten dargestellt:

Die Folgen der Industrialisierung für das Ökosystem Erde

>> Die Bevölkerung der Erde
>> Rohstoffe
>> Böden
>> Wassernutzung
>> Wasserverschmutzung
>> Luftverschmutzung
>> Klimawandel
>> Gefährdung der Biodiversität


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© Jürgen Paeger 2006 – 2020

Literaturtipp: Wenn Sie einen Eindruck haben wollen, wie das Leben in den Mega­städten außerhalb der reichen Länder ist, lesen Sie einmal Suketu Mehta: Bombay. Maximum City – “das mit Abstand beste Buch, das bisher über diese kaputte Metropole geschrieben wurde.” (Salman Rushdie)

Wie sah Manhattan aus, bevor es von Europäern entdeckt wurde?

Diese Frage stellte sich die New Yorker Wildlife Conservation Society – und versucht eine Antwort >> hier (welikia.org).